piwik no script img

Warten auf ein Wort des Gurus

■ Ab heute steht er in Japan vor Gericht: Shoko Asahara, Chef der Aum-Sekte und mutmaßlicher Drahtzieher des Anschlags mit Giftgas auf die U-Bahn in Tokio Aus Tokio Georg Blume

Warten auf ein Wort des Gurus

An den Tokioter Kiosken prophezeiten die Schlagzeilen den „Tag des jüngsten Gerichts“. Doch so leicht will dem Gerede über den heutigen Auftakt eines Jahrhundertprozesses niemand mehr glauben: Bereits vor sechs Monaten war in Japan eine ähnliche Medienhysterie ausgebrochen – dann entließ der Guru Shoko Asahara flugs seinen Anwalt, und die Show wurde nur Stunden vor ihrem Beginn abgeblasen. Heute soll es nun wirklich losgehen. Das versprechen zumindest die drei Richter, auf deren Geheiß dem Führer der Sekte Aum-Shinrikyo („Erhabene Wahrheit“) zwölf Pflichtverteidiger zur Seite stehen, die nicht entlassen werden können. Und damit dürfte auch der Guru seinen Auftritt vor Gericht nicht verpassen.

Das alles hat es noch nie gegeben: Ein selbsternannter Buddha und Jesus Christus, angeklagt des 26fachen Mordes. Asahara soll unter anderem verantwortlich sein für die verheerenden Giftgasanschläge in der Tokioter U-Bahn, bei denen am 20. März 1995 zwölf Menschen starben und 5.500 verletzt wurden. Nach der Verurteilung, der Asahara kaum entgehen dürfte, droht dem Guru die Todesstrafe oder lebenslange Haft. Zum Auftakt des Prozesses wird der Staatsanwalt die Namen sämtlicher Opfer der mutmaßlichen Taten Asaharas verlesen. Erst dann kommt der Augenblick, auf den alle warten – „das Wort hat der Angeklagte“, wird Richter Fumihiro Abe sagen. Voraussichtlich wird der jedoch schweigen oder einen Psalm zitieren. Als der Guru noch in Freiheit lebte, war ihm das Matthäus-Evangelium, Kapitel 24, Vers 9 ans Herz gewachsen: „Alsdann werden sie euch überantworten in Trübsal und werden euch töten. Und ihr werdet gehaßt werden um meines Namens willen von allen Völkern.“

Der Haß auf den Guru fällt den meisten JapanerInnen nicht schwer. Zu ungeheuerlich bleibt die Vorstellung, daß es den Jüngern Asaharas mit Nervengas in Plastiktüten gelang, U-Bahnen in Gaskammern zu verwandeln. „Wenn ich zur Arbeit gehe, kommt es mir vor, als ob ich auf ein Schlachtfeld gehe“, sagt noch heute Toshiaki Toyoda, Stationsvorsteher im U-Bahnhof Kasumigaseki, in dem einer der Anschläge verübt wurde.

Es ist zum Allgemeinplatz geworden, die Sicherheit in Japans Großstädten als Phänomen der Vergangenheit zu erklären. Die Polizei sieht das Land auf dem Weg „in eine westliche Kriminalitätsgesellschaft“. Über 10.000 neue Bewerber durften die Sicherheitskräfte seit den U-Bahn-Anschlägen anheuern.

Größere Sicherheitsaufgebote, wie etwa beim Besuch des US- amerikanischen Präsidenten Bill Clinton in der vergangenen Woche, wecken bei den Tokiotern nicht mehr die alte Skepsis gegen den starken Staat, sondern ekelhafte Erinnerungen an den wahllosen Sektenterror. Vielen fährt noch immer ein Schreck in die Glieder, wenn sie im Zugabteil einen üblen Geruch entdecken – obwohl das von Aum verwandte Giftgas Sarin geruchlos war.

Darin unterschieden sich die Giftgasanschläge von allen früheren Formen des Terrorismus: Sie waren gegen alle gerichtet. Ihr Ziel war Massenmord. Jeder und jede war ein mögliches Opfer. In den 70er Jahren hatte Japan – ähnlich wie die Bundesrepublik mit der Roten Armee Fraktion – Erfahrungen mit dem Links-Terrorismus gemacht, der sich jedoch immer symbolische Ziele wählte.

Die Einmaligkeit des Aum-Verbrechens erregt bis heute Terror- Spezialisten in aller Welt. In ihrem kürzlich erschienenen Buch „Aum“ fassen die Journalisten David Kaplan und Andrew Marshall die Meinung vieler Sicherheitsexperten zusammen: „Aum hat ein Tabu gebrochen: Die Schwelle wurde überschritten zu einer neuen Ära des Terrorismus mit High-Tech-Charakter, in der unkontrollierte Killereinheiten die Welt durch Massenvernichtungsprogramme zu zerstören versuchen.“ Dabei war die Botschaft Asaharas einfacher als die all seiner terroristischen Vorgänger: Armaggedon oder der Weltuntergang sollte 1997 stattfinden.

So verrückt erschien vielen JapanerInnen der Versuch, den Weltuntergang mit eigenen Mitteln herbeizuführen, daß sie sich um eine ernsthafte Debatte über Ursachen und Folgen des Sektenterrorismus gar nicht bemühten. Vielen Religionswissenschaftlern, die in Asahara früher einen ernsthaften Gesprächspartner sahen, ist die Angelegenheit heute peinlich. Nur wenige der über 200.000 Religionsgemeinschaften in Japan haben sich überhaupt mit dem Sektenterror befaßt. „Wir können nicht sagen, die Aum-Geschichte hat nichts mit uns zu tun. Wir waren es, die die Bedürfnisse der jungen Leute nicht erfüllten, und sind damit indirekt für das Aum-Erscheinen verantwortlich“, heißt es in einem Rundbrief der etablierten buddhistischen Sodoshu-Sekte. Derartige Selbstkritik ist nahezu einmalig.

Nach der Zeit der Schrecken – 1995 wechselten Erdbeben, Sektenterror und Bankenkrach einander ab – sehnen sich viele nach der Normalität zurück. Bisher schienen die Ereignisse dem Wunsch zu folgen: Die großen Autohersteller melden wieder Profite, 90 Prozent aller Universitätsabsolventen haben eine Arbeit gefunden, und in der Politik ist mit dem neuen Premier Ryutaro Hashimoto wieder Ordnung eingekehrt.

Nur einer könnte diese Ruhe in den nächsten Tagen stören: Shoko Asahara. Nicht nur auf die letzten 600 Anhänger, die heute ein kärgliches Dasein fristen, könnte ein Wort des Gurus elektrisierend wirken. Ganz Japan wird gebannt an seinen Lippen hängen. Noch sind sieben Mordgesellen Asaharas auf freiem Fuß. Gerade weil das Aum- Drama rational kaum verarbeitet wurde und die Wunden noch frisch sind, könnte Shoko Asahara erneut Schrecken verbreiten.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen