: "Wir haben uns jetzt ganz schnell organisiert"
■ Lotta Thurm (14 Jahre alt) hat in Moskau Strahlenopfer getroffen / Ihre Bremer Schulklasse geht nun demonstrieren und sammelt für einen der Männer aus Tschernobyl
Ihr Vater Gisbert Mrozek ist Korrespondent in Moskau - Lotta Thurm (14) hat ihn schon mehrmals besucht und war in den Osterferien dabei, als Mrozek drei Tschernobyl-Liquidatoren für Focus-TV interviewte. Lotta kehrte zurück und mobilisierte die siebten Klassen der Bremer Gesamtschule Mitte. Gestern auf der Demo sammelten sie Geld, damit einer der Männer , denen Lotta begegnet ist, am Bein operiert werden kann. Beim Förderverin wurde außerdem ein Konto eingerichtet. Lotta Thurm im taz-Interview
Du warst mit Deinem Vater in Moskau und hast Strahlenopfer getroffen?
Lotta Thurm: In der Wohnung von einem Atomforscher, der an einem Institut in Moskau arbeitet.
Das waren Männer, die in Tschernobyl gearbeitet haben?
Ja, einer war Feuerwehrmann, der andere war ein Leitender in dem Atomkraftwerk, der dritte hat da, ich glaube in dem Bereich Stromversorgung gearbeitet.
Die drei haben den Unfall direkt miterlebt?
Ja. Zwei haben direkt gerade dort gearbeitet, und der dritte, der Feuerwehrmann ist nach ein paar Stunden dort eingesetzt worden. Er mußte den Schutt rausschaffen. Das waren die Liquidatoren.
Was haben die Männer denn von dem Unfall erzählt?
Sie haben gesagt, daß sie einen großen Druck gespürt haben, als das alles in die Luft gegangen ist – das kann man ja nicht riechen. Dann ist auch der Alarm losgegangen. Und dann haben sie aber noch weitergearbeitet, sie haben alles Mögliche getan, was sie konnten. Dann sind sie raus, und da haben sie erst richtig gesehen, wie das da aussah. Sie haben den kaputten Reaktor gesehen. Und erst viel später haben sie gemerkt, daß sie von Minute zu Minute ganz viele von den Strahlen abgekriegt haben.
Sie konnten sich auch nicht schützen.
Nein, sie hatten keine Schutzkleider. Die Feuerwehrmänner und Liquidatoren auch nicht. Die Gasmasken lagen im Safe.
Haben die Männer gesagt, daß sie lieber nicht da gearbeitet hätten?
Nein, sie haben gesagt: Jeder andere hätte das auch getan. Sie haben versucht, daß Unglück irgendwie noch zur verkleinern. Oder einzudämmen. Aber es hat nichts gebracht. Mehrere von ihren Freunden und Kollegen sind dann auch gestorben im Krankenhaus.
Sie selbst sind auch krank?
Ja. Drei Tage danach sind sie mit dem Bus nach Moskau gebracht worden. Die Busse liegen da in dem Atomforschungsinstitut immer noch frei rum, die sind auch hoch verstrahlt, wegen der Kleidung der Leute. Nach drei Tagen haben die Leute die ersten Anzeichen von der Strahlung gekriegt, je nachdem, wieviel sie abgekriegt hatten. Ihnen ist schlecht geworden, und die Haare sind ihnen ausgefallen. Und dann sind sie auch schwarz geworden, von den Verbrennungen.
Sie wissen auch, daß sie viel Radioaktivität abbekommen haben?
Ja. Sie lagen ja auch mehrere Monate im Krankenhaus. Und da haben sie dann Zeit gehabt, haben darüber nachgedacht, sind im Park spazierengegangen. Da saßen sie dann auf der Bank auf dem Gelände von dem Krankenhaus, und dann fehlte schon der zweite oder der dritte. Und irgendwann konnten sie nicht mehr aufstehen, weil sie so schwach waren. Nach drei Monaten konnten sie dann mit viel Anstrengung wieder die ersten Schritte gehen. Der eine hat später einen Freund gefragt, wieviel er denn abgekriegt hat. Und da hat er gesagt, er kann das nicht messen. Seine Meßgeräte können so hohe Strahlen nicht messen. Später wurden sie dann in Moskau gemessen, und dann kam raus, daß sie vierhundert, fünfhundert und sechshundert rem abgekriegt haben.
Die drei Männer aus Tschernobyl leben jetzt in Moskau?
Überall. In den Wohnungen, die ihnen zugeteilt worden sind.
Was machen sie denn? Arbeiten?
Arbeiten können sie ja nicht. Der eine kriegt eine Rente von umgerechnet dreihundert Mark. Ein Arzt verdient da ja im Durchschnitt achtzig Mark und ein Busfahrer fünfhundert. Das ist ja ziemlich ungerecht verteilt. Der eine hat noch eine große offene Wunde am Bein, die wandert auch und verheilt nicht. Für ihn ist das Verbändewechseln schon so wie Zähneputzen, weil er es zweimal täglich drei Stunden lang desinfiziert und einwickelt. Er bräuchte eine Hauttransplantation. Die kostet aber zwanzig- bis dreißigtausend Mark. Das kann er sich einfach nicht leisten. Und die sind ja auch nicht versichert. Da müßte er die Familie auf die Straße setzen, die Wohnung verkaufen.
War das schrecklich für Dich, das alles zu hören?
Erst hab ich ja gar nicht so viel verstanden. Nur später, als mir mein Vater das alles erzählt hat.
Was hast Du Dir dabei gedacht?
Ich hab gedacht, daß es einfach schrecklich ist – sie haben auch ein Fohlen gezeigt, mit acht Beinen – ich hab gedacht, daß es schon große Ausmaße haben kann und eigentlich auch hier. Jede Minute kann das Atomkraftwerk in die Luft gehen, das hier in der Nähe ist – ich weiß jetzt nicht, wie das heißt. Und es ist irgendwie total zwecklos: Nur fünf Prozent der ganzen Weltenergie wird durch Atomkraftwerke gemacht. Aber es wird ja viel mehr als fünf Prozent kaputtgemacht, wenn nur ein Atomkraftwerk in die Luft geht.
Du bist gut informiert. Hast Du die Zahlen in der Schule gehört?
Ich hab mich bei meinem Vater nochmal informiert, auch für die Schule, weil ich dort darüber geredet hab. Aber ich hab ja auch Schulfilme und Archivaufnahmen in Moskau gesehen.
Ihr habt jetzt in der Schule öfter darüber gesprochen.
Früher hab ich auch schon was gewußt, aber ich hab mich einfach nicht so damit befaßt. Aber jetzt haben wir in der Schule richtig diskutiert und haben viele Unterrichtsstunden damit ausgefüllt.
Interessiert das die anderen auch?
Ja, bis auf ein paar, die es einfach nicht checken, was das ist. Oder gar nicht zuhören. Aber die anderen hören schon zu.
Jetzt geht Ihr demonstrieren. Was fordert Ihr?
Wir wollen erreichen – das ist zwar wahrscheinlich ziemlich unmöglich –, daß erstens die Atomkraftwerke stillgelegt werden und keine neuen gebaut werden und das Geld lieber in Wind- und Sonnenenergie gesteckt wird. Und wir sammeln für das Bein des einen Mannes aus Tschernobyl, weil das sonst amputiert werden muß. Wir werden das Geld dann dem Förderverein geben. Und der wird ein Konto eröffnen, das steht dann auf den Flugblättern drauf, die wir verteilen. Da kann drauf gespendet werden.
Wie habt Ihr Euch das alles organisiert?
Ziemlich schnell (lacht). Durch Lehrer, und wir haben eben alle möglichen Leute gefragt. Ein paar waren bei der Polizei und haben gefragt, was da für Bedinungen sind zum Sammeln. Vom Roten Kreuz kriegen wir die Sammelbüchsen. Die Flugblätter haben wir uns noch nachträglich beim Grünenbüro besorgt. Obwohl es eigentlich schon keine mehr gab. Jetzt haben wir halt nur fünfhundert statt tausend. Die Schüler haben sich eben informiert und haben telefoniert.
Von zu Hause aus oder in der Schule?
Ja zu Hause, aber auch in der Schule. In der Pause, da kann man ja auch telefonieren.
Seit wann bist Du denn so aktiv?
Ich finds eigentlich schon länger doof. Aber ich hab nichts unternommen, weil ich nicht wußte, wie. Wenn mir jemand das gesagt hätte, wie es geht, hätte ich es bestimmt gemacht. Aber vielleicht war ich da auch zu jung.
Hast Du auch Pläne, wie Du weitermachen kannst, wenn der zehnte Jahrestag dann wieder vorbei ist?
Ich glaube, das fängt jetzt erst wieder richtig an. Mit den zehn Jahren wird das alles wieder aufgewirbelt. Ich glaube, daß man auch in der Zukunft noch ziemlich viel dagegen unternehmen kann und auch sollte.
Was hast Du vor?
Zu Demos gehen...
Deine Freundinnen und Freunde gehen auch mit?
Eigentlich schon. Die muß man zwar manchmal überreden, aber eigentlich schon. Die gehen bloß manchmal lieber schwimmen. Die finden das Thema aber auf jeden Fall auch interessant und finden das auch doof.
Hast Du auch Angst vor dem, was in Tschernobyl passiert ist? Oder ist es weit weg?
Es ist schon weit weg. Ich könnte jetzt nicht denken, daß es jetzt mich betreffen würde.
Trotzdem willst Du etwas tun.
Ja. Es kann mich ja eben doch betreffen, wenn es hier passiert. Und ich finds auch schlimm, wenn da etwas ist und Leute sterben und wirklich was verseucht wird. Außerdem esse ich gerne Blaubeeren.
Fragen: Silvia Plahl
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