: Prothesen und Parasiten
■ Das Theater, ein produktiver Störfaktor in der zunehmenden „Vertaktung“ der Gesellschaft durch die Neuen Medien? Die Bremer Tagung „Medien - Zeit - Theater“ sucht nach Antworten
„Medien – Zeit – Theater“ heißt eine heute und morgen stattfindende Tagung der Bundeszentrale für Politische Bildung in Verbindung mit der Bremer Landeszentrale und dem Bremer Theater. Ausgangspunkt der Tagung war die zunehmende „Vertaktung“ der Gesellschaft, forciert nicht zuletzt durch die elektronischen Medien und die sogenannten Neuen Medien. Welche Rolle kann das – alte – Medium Theater innerhalb dieser Entwicklung spielen? Trägt es möglicherweise zur Verlangsamung der Dynamisierung gesellschaftlicher Prozesse bei, ist es gar ein Störfaktor?
Zahlreiche namhafte Referenten, u.a. Knut Hickethier, Theo Girshausen und Bernd Guggenberger, nähern sich dem Thema von verschiedenen Seiten: der naturwissenschaftlichen, theaterwissenschaftlichen, soziologischen. Einer von ihnen ist Arnd Wesemann (Frankfurt), der „Tendenzen der Mediatisierung von Theater“ aufzuzeigen versucht.
Für die taz schrieb Wesemann vorab über das Spannungsverhältnis zwischen Theater und Computer und über künstlerische Versuche – mal geglückt, mal tragisch gescheitert –, Choreographie und Performance durch elektronische Manipulationen neue, interaktive Seiten abzugewinnen.
Als das Telefon – das erste Neue Medium überhaupt – erfunden wurde, war sein Zweck noch unbekannt. Man dachte an diejenigen, die keine Eintrittskarte zu Wagners „Walküre“ ergattert würden. Auf einem Werbeplakat der Jahrhundertwende lauscht zu Hause am Hörer eine Dame derart hingerissen den Koloraturen ihres Opernstars, als befände sie sich auf einem Stehplatz hinter einer Säule im Rang der Scala. Damals wurde ernsthaft geglaubt, Telefone vor allem zur Übertragung von Live-Ereignissen zu nutzen. Telefone zu verwenden, damit jeder unzensiert mit jedem sprechen könne, galt als derart suspekt, daß solches gar nicht erst erwogen wurde. Ebensowenig ließ sich die künftige Anwendung des Computers prognostizieren. 1897 wurde in England ein erstes Gerät auf diesen Namen getauft. Es diente der Errechnung der Vorgabezeit beim Akkordlohn, lange bevor Menschen sich mit dem Computer nicht nur kontrollieren, sondern auch weltweit austauschen konnten.
Aber mit Sicherheit gehört das Theater nicht zu den Vorreitern in der Anwendung solch neuer Technologien. Nie war das Telefon auf der Bühne mit der Welt verbunden, es kam aus der Requisite und spielte allenfalls die Rolle eines altgriechischen deus ex machina. Ein Anruf, das Klingelzeichen aus der Inspizienz, schon ändert sich der Lauf der Handlung.
Im Theater sind Zwei-Wege-Medien wie Telefon und Computer stumme Mauerschauer. Spricht man mit Theaterleuten über Neue Medien, verweisen sie glücklich auf Errungenschaften im Betriebsbüro, in der Licht- und Tonanlage. Überall stehen Computer, manche Theater lassen sich über besagtes Modem auch erreichen, um Spielpläne zu verbreiten. Kommt man aber auf die Bühne selbst zu sprechen, wird aus dem Computer sofort ein Konkurrent. Schon Radio, Film und Fernsehen hatten sich erst an die Dramaturgie des Theaters angelehnt, seine Schauspieler und Regisseure abgeworben, um den Bühnen unlauter bunte Konkurrenz zu bieten.
Aber es gibt Gemeinsamkeiten zwischen Theater und Computer: Multimedia – die Integration von Bild, Sound, Text, Grafik, Körper und Robotik – hat durchaus Ähnlichkeit mit dem Gedanken des Gesamtkunstwerks, das das Theater für sich vereinnahmt. Mißtrauen wird nur genährt durch kalte Bühnenrepräsentationen, wie sie zur „Nerve Bible“-Tournee von Laurie Anderson präsentiert wurden: aus dem Computer gefischte Projektionen leerer, elektronisch animierter Bühnenbilder, wie sie auch Frédéric Flamand und Fabrizio Plessi zur Biennale in Venedig für ihr Projekt „Ex machina“ entwarfen. Es blieb eine computeranimierte Leinwand-Landschaft, die erst der franko-amerikanische Choreograph Jean-Marc Matos mit seiner Gruppe „K.Danse“ zu einem interaktiven Bühnenbild weiterentwickelte.
Matos glaubt, wir „sind an einem Punkt angelangt, wo wir den Computer als eigene ästhetische Größe für den Tanz begreifen können“. In einer Sequenz seiner Choreographie „Io“ steuert ein Tänzer zwei Schattenfiguren aus den Megabyte-Speichern auf der Projektionswand und dirigiert deren Bewegungen durch seinen eigenen Körper. Hier geht es nicht länger um elektronisches Bühnendesign, sondern um die unmittelbare Interaktion der Körper mit elektronischen Medien.
Solche Experimente entstehen meist in Laboratorien für Neue Medien. In einem Raum mit vier Projektionswänden entwickelte die Künstlerin Ulrike Gabriel ihre Performance „Breath“.
Um die Taille trägt ein Jazztrompeter einen Gürtel mit feinen Sensoren, wie er zum Auffinden von Nierensteinen dient. Durch den Gürtel registriert ein Computer feinste Regungen der Atmung. Auf die Wände werden Vierecke projiziert. Der Musiker atmet ein, die noch abstrakten Polygone fliegen fort, der Raum wird weit. Es scheint, der Trompeter stünde inmitten seiner Lunge. Er atmet aus, bläst. Die Polygone rasen in veränderter Form auf ihn zu. Aus dem aktuellen Atemzug und den vergangenen Bewegungen der Lunge komponiert der Computer zunehmend komplexere Bilder. Aus den Vierecken werden bizarre Eisschollen, kristalline Gebilde, Strudel und Ströme, eine Landschaft gläserner Nadeln und glitzernder Brandung, die nach den Gesetzen der Blastechnik entstehen.
Auch William Forsythe, Frankfurts Ballettchef, ist von diesen Interaktionen fasziniert. Neben einer CD-Rom zu seiner Tanzsprache, die es neuen Tänzern erlaubt, binnen kurzer Zeit die Grundlagen der Kompagnie zu erlernen, gewann das 1995 von Michael Saup entwickelte interaktive Choreographie-System „Binary Ballistic Ballet“ auf der Linzer „Ars electronica“ einer der begehrten „Nicas“ – für den Akteur Computer in Forsythes Ballettabend „Eidos:Telos“. Hier wurde ein System geschaffen, das die Tänzer in kein technisches Korsett zwängt, sondern per Monitor in den Freiheiten des Bewegungsmaterials unterstützt. Die Tänzer können ihre eigenen Assoziationen zu durch Frequenz und Amplitude beeinflußten Wortbewegungen auf dem Bildschirm tanzen, auf die je nach Dichte des Klangspektrums wechselnde Farbe der Buchstaben reagieren oder die dem Audiosignal folgenden Verdrehungen der Zeichen nachvollziehen.
Einer ist in der Interaktion von Körper und Maschine weitergegangen als alle anderen: Der australische Performance-Künstler Stelare glaubt, Mensch und Maschine seien wechselseitige Parasiten. Maschinen machen ohne Menschen keinen Sinn, umgekehrt sei der menschliche Körper biologisch derart unterentwickelt, daß er Werkzeuge und Prothesen für sein Überleben dringend benötigt.
Chipgesteuerte medizinische Maschinen hat Stelare für den Tanz produktiv zu machen versucht. Doch er hatte Pech. In seine Beinmuskulatur implementierte Stromkabel wurden versehentlich mit zu hoher Voltzahl beschickt. Stelare sprang zwei Meter in die Luft, näherte sich der Erde, flog mit schmerzverzerrtem Gesicht wieder in die Luft. Hier tanzte kein Mensch mehr, hier verwandelte sich elektrische Energie in eine Choreographie, die noch nie so verstören konnte wie bei diesem Unfall.
Arnd Wesemann
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