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Stille Tage in Mariendorf

Die Nachbargräber liegen fünf Meter entfernt. Irgend jemand hat das Tränende Herz auf ihr Grab gepflanzt. „Freiheit ist nur im Kampf um Befreiung möglich“ steht auf dem Grabstein. Und ihr Name. Ein Tag am Grab von Ulrike Meinhof  ■ Von Thorsten Schmitz

Das viele Bücken macht der Rücken nicht mehr mit, gezwungenermaßen übt Frau Frässdorf, 70, den aufrechten Gang. So rutscht ihr Sohn auf Knien vor des Vaters Grab und folgt den Anweisungen der Mutter. Der Sohn sagt kein Wort, sein Gesicht mindestens drei: Mutter, du nervst.

Die fleischigen Arme vor der Brust verschränkt, erteilt Frau Frässdorf Positionsbestimmungen fürs Blattwerk über ihrem Mann. Gestern abend malte sie mit Buntstiften ein Pflanzendiagramm auf ein Stück Papier, von dem sie nun abliest, wo auf dem Gattengrab was die Sommersaison einläuten soll. In einer pietätlosen Lautstärke, als stünde sie in einer Kaserne.

Ihr grob geblümter und gleichmäßig geraffter Rock, der genausogut mal eine Campingtischdecke gewesen sein könnte, wird vom Winde verweht. Nur mit Mühe bändigt sie die Frisur, das Haarspray ist ihr am Morgen ausgegangen. In deutscher Gründlichkeit befiehlt sie knapp: „Nein, die Eibe da hin!“ – „Mehr schräg zu den anderen!“ – „Höher die lila Stiefmütterchen!“ – „Jaaa, so isset jut!“ 180 Mark hat der Grabschmuck sie gekostet, 180 Mark! Frau Frässdorf, Elfriede Frässdorf, hat sich das Geld „aus den Rippen geschnitten“, aber das „war mir der Adolf wert“.

Neidisch schielt Frau Frässdorf auf die Nachbargräber und deren Meere aus kostbaren Blumen und kostbaren Vasen. „Nächstes Jahr machen wir Tulpen drauf“, läßt sie ihren Sohn wissen, der nun gießt. „Die kommen dann von alleine.“ Traurig stimmt sie das schmucklose Grab vis-à-vis, es hat noch nicht mal Tulpen. Wenn Frau Frässdorf nicht so knausern müßte, würde sie diesem Grab ein bißchen Farbe verpassen: „Zeit genug habe ich ja.“ Je bunter ein Grab, findet Friedhofspfarrer Jürgen Quandt, desto lebendiger wird ein Toter. Das einzig Lebendige auf dem schmucklosen Grab ist eine gurrende Taube.

Einen Tag bevor ihr Mann mit kirchlichem Segen unterm Lehmboden des Heilig-Kreuz-Friedhofs in Berlin-Mariendorf versenkt wurde, inspizierte Frau Frässdorf die Anrainergräber: „Es interessiert einen doch, wo man begraben liegt. Irgendwann“, sagt sie und die Augen werden naß, „komme ich ja auch hierher.“ Die Neugierde wich dem Entsetzen. Quasi Kopf an Kopf, in Grab Nummer 3A-012-019, liegt Ulrike Meinhof. „Da habe ich erst mal einen gehörigen Schreck gekriegt.“ Adolf gegenüber einer Terroristin – fast hätte Frau Frässdorf die Beerdigung platzen lassen. Ihre drei Söhne hielten sie davon ab.

Und inzwischen, ein Jahr nach dem fatalen Spaziergang, hat sich Frau Frässdorf an die „Frau von der RAF“ gewöhnt. Sie zeigt auf beide Ruhestätten und konstatiert: „Die ist tot, der ist tot. Der Tod macht alle gleich.“

Nicht ganz.

Ulrike Marie Meinhof liegt, seit zwanzig Jahren in bürgerliche Verhältnisse gebettet, isoliert begraben: Je fünf Meter links und rechts von ihr sprießen Wiese und wildwachsende Veilchen, erst dann beginnen die Nachbargräber. Als „hätte sie die Pest gehabt“, gruselt es den Verleger Klaus Wagenbach. In der Nacht vor Meinhofs Beerdigung wurde er angerufen und gebeten, eine von drei Grabreden zu halten – geplante Grabredner hatten abgesagt. So setzte sich Wagenbach an seinen Schreibtisch und schrieb bis weit nach Mitternacht die Rede „in einem Zug“. Sogar die New York Times zitierte Wagenbachs Bonmot „Was Ulrike Meinhof umgebracht hat, waren die deutschen Verhältnisse“.

Das mit Herbstlaub bedeckte Meinhof-Grab ist kniehoch eingefaßt von Hecken, die üblicherweise als Mittelstreifen auf Autobahnen fungieren. In RAF-Orthographie steht Ulrike Marie Meinhof kleingeschrieben auf einem verwitterten Grabstein, der schräg aus der Erde ragt und Ameisentrupps als Sonnenbank dient.

Blaßweiß schimmert ein verbotener Spruch, den Meinhofs Schwester eingravieren lassen wollte, was ihr die Friedhofsverwaltung aber nicht erlaubte. So pappten Meinhof-Sympathisanten wenige Wochen nach der Beerdigung blutrote Selbstklebebuchstaben auf den Grabstein: „Freiheit ist nur im Kampf um Befreiung möglich.“ Ein rotes t und ein rotes f liegen zwischen verwelkten Birkenblättern, ein rosa Quarzstein und Styroporkugeln, Kaugummi- Papier und eine Zigarettenkippe. Am Fußende ein zarte rotblühende Staude, ein Tränendes Herz, von dem niemand weiß, wer es gepflanzt hat.

Denn keiner hat je Besucher am Grab von Ulrike Meinhof erspäht, nicht der Pfarrer, nicht der Verwalter, nicht die Sekretärin, nicht die Gärtner, nicht die Bestatter. Keiner weiß auch so recht, wo das Grab genau liegt, alle lassen im „Eingangsbuch“ nachschauen. Dort ist, unter der Nummer D 135, dem Datum 9. 5. 1976 und dem so geschriebenen Namen Meinhoff, ihr letzter Aufenthaltsort verzeichnet – das Grab mit Aussicht auf ein italienisches Restaurant, das den Duft von Pizza und Pasta über die Gruften pustet, eine Litfaßsäule, die für „Dead Man Walking“ wirbt und für die PDS.

In diesem Jahr wäre Meinhofs Mietvertrag ausgelaufen. Man hätte die Reste des Eichensargs entsorgt und Platz geschaffen für Neuankömmlinge entlang der Eisenacher Straße, die Rennstrecke für technobeschallte Tempelhofer Turbofahrer. Doch Wienke Zitzlaff, die Schwester, ließ per Postscheck verlängern – bis zum Jahr 2001. „Die haben mir nur fünf Jahre gegeben.“

Vor dem Areal des Friedhofs parken Mercedesse und anthrazitfarbene 7er-BMWs. Am Ende des Zweiklassenfriedhofs, wo die De- luxe-Gräber in vogelzwitschernder Stille liegen, ist das Ullstein-Gebäude zu sehen – der Verlag, bei dem Ulrike Meinhofs Exmann Klaus Rainer Röhl zuletzt angestellt war. Man sitzt neben ihrem Grab – und findet keine Antwort auf die Frage, warum niemand ihrer Freunde sich an den Tag der Beerdigung erinnert.

Ihre Schwester haßt Fragen zu Ulrike Meinhof, während des 20. Todestags reist sie außer Landes, um den Todestag-Journalisten aus dem Weg zu gehen. Christiane Ensslin, die Schwester von Gudrun Ensslin, hat Erinnerungen an das Begräbnis ebensowenig konserviert („Das ist ja wohl auch unwichtig“) wie Christian Ströbele, Werner Lotze, Alexander Kluge, Silke Maier-Witt. Die Ziehmutter Renate Riemeck gibt schon seit Jahren keine Auskunft mehr, sie lebt in Süddeutschland. Bettina Röhl hat sich zuletzt mit ihrer Schwester Regine im Spiegel die vertrackte Mutter-Tochter-Beziehung von der Seele geschrieben, noch mal will sie nicht über Ulrike Meinhof sprechen. Stefan Aust hatte sie und ihre Schwester damals von Italien nach Hamburg entführt zu ihrem Vater, damit sie nicht in ein Trainingscamp in den Nahen Osten mußten. Bettina und Regine Röhl waren nicht auf der Beerdigung ihrer Mutter, der Vater wollte das so. „Ich mußte die doch abschirmen“, sagt Klaus Rainer Röhl heute, „ich wußte, was für ein Rummel die da erwartet hätte“.

Ein Eichhörnchen knabbert furchtlos an einer Nuß, die Besucher der Meinhof-Nachbarn reden mit ihren Toten, murmeln von Arbeitsüberlastung und vom Geburtstagsfest der volljährigen Tochter. „Mit Ulrike redet niemand“, sagt eine Besucherin, die Dünger über ein Grab streut. „Ich habe da noch nie jemanden gesehen.“ Das wäre ihr auch gar nicht recht. Wer weiß, wer da kommt: „So schwarzvermummte Anarchisten, die brauchen wir hier nicht.“

Der Heilig-Kreuz-Friedhof ist ein Ort für rechtschaffene Tote, für Justitiare und Apotheker, Zahnärzte und Fleischermeister. Daß 50 Meter von Ulrike Meinhof auch noch Kemal Altun begraben liegt, fuchst viele ältere Besucher. Altun hatte sich in einem Berliner Untersuchungsgefängnis umgebracht, weil er in die Türkei ausgeliefert werden sollte. „Die sollen doch auf einen Friedhof für politische Tote“, schnauzt ein Ehepaar beim Blumenhändler am Friedhofseingang. Ein anderer Rentner, der verbotswidrig mit dem Rad zum Grab seiner Frau kurvt, hält Türken in Mariendorf sowieso für fehlplaziert: „Es gibt doch türkische Friedhöfe.“

Als Ulrike Meinhofs Leichnam am 16. Mai 1976 im Mercedes von Stuttgart nach Berlin überführt wurde, wollte ihr kein Friedhof die letzte Ruhe garantieren. Die Heilig-Kreuz-Gemeinde war als einzige dazu bereit – nicht ohne hausinternen Krach, bei dem die Gemeinde fast auseinandergebrochen wäre. Als schämte sich die Friedhofsadministration noch heute für ihre prominenteste Tote, reagiert der Verwalter schnippisch auf jede Frage. „Ich weiß nichts“, sagt er, und auch die Grabposition „nur ungefähr. Ich kann mir doch nicht jeden Namen merken.“ Ein Gärtner, der eine Hecke zurechtschnippelt, sagt: „Ick saje nüscht“, als hüte er ein Geheimnis. Sein Kollege, der am Topfgerbera-Regal lehnt, weiß ein bißchen mehr: „Die Meinhof wollte keiner haben, die war denen zu heiß.“ Letztendlich, sagt er, „ist sie dann bei uns gelandet. Sie stört ja niemanden mehr.“ Für Pfarrer Quandt funktionieren Friedhöfe „wie ein Gedächtnis“, für den rauchenden Gärtner „ist hier niemand was Besonderes, tot ist tot und weg“.

Die gute Fee von Mariendorf heißt Hedwig Kleist und hat die Ideen von Ulrike Meinhof „noch nie verstanden, interessiert mich auch nicht“. Frau Kleist hat schon mitbekommen, daß nie jemand an Meinhofs Grab düngt, pflanzt, jätet, redet, steht, weint. Sie ist klein und steht jeden Tag am Grab ihrer Schwester, das Handtaschenband immer zweimal ums Handgelenk gewickelt. „Es gibt ja Friedhofsganoven, die es auf alte Frauen abgesehen haben.“ Hedwig Kleist sagt, sie müsse „sowieso“ am Grab von Ulrike Meinhof vorbei, wenn sie zu ihrer Schwester geht. Aber das stimmt nicht, es ist ein großer Umweg – und die Behauptung eine Ausrede, an der sie festhält.

Als wolle sie dabei nicht beobachtet werden, bückt sich Frau Kleist über Ulrike Meinhofs Grabparzelle, rupft Unkraut raus und gießt das Tränende Herz. Womöglich hat sie es gepflanzt, aber das würde sie nie verraten. Frau Kleist fühlt sich ertappt, wenn man sie auf ihre Umwegsbeschäftigung anspricht. „Es ist seltsam“, sagt sie und schiebt ihre Brille wieder zurecht, die vor Schweiß auf die Nasenspitze gerutscht ist, „diese Frau kannte einmal jeder. Jetzt ist es so still um sie.“

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