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Das Land, das an Gott grenzt

Sibirien, Auschwitz, Weimar, Bitterfeld: Der Mythos des Ostens und seine Spuren im deutschen Nachkriegsbewußtsein  ■ Von Heinz Bude

I

Am 4. Februar 1963 führte Joseph Beuys im Rahmen des ersten von ihm selbst organisierten Fluxuskonzerts seine „Sibirische Symphonie, 1. Satz“ auf. Unter dem Titel „Festum Fluxorum“ hatte sich neben Beuys die ganze Prominenz der Fluxusbewegung wie George Brecht, Nam June Paik, Al Hansen, Wolf Vostell oder Daniel Spoerri in der Düsseldorfer Kunstakademie versammelt.

Man sieht auf der Bühne eine große und eine kleine jeweils mit Nummern versehene Kiste, einen Flügel, dazwischen eine Schiefertafel, an der Seite eine Stehleiter und viel zerknülltes und zerschnittenes Papier. Beuys mit dem Hut improvisiert an dem Instrument einen freien Satz, blendet dann ein Stück von Erik Satie ein, hängt einen toten Hasen an die Tafel, schreibt darauf ziemlich elementare Rechenoperationen wie 2+2=4 und 2x2=4 oder 22=4, präpariert den Flügel mit kleinen Tonbergen, steckt in jeden einen Ast, befestigt einen Draht vom Klavier bis zu dem Hasen – und nimmt dem Hasen das Herz heraus.

Die Aktion ging mit der Ruhe und Konzentriertheit eines Rituals vor sich. Der gewaltsame Eingriff ließ zwar vielen im Publikum den Atem stocken, doch man wagte nicht, gegen die Folgerichtigkeit der Vorgänge Protest zu erheben. Es war eine Symphonie aus einer anderen Welt, die man im Wirtschaftswunderdeutschland der frühen sechziger Jahre schon fast vergessen hatte.

Im Winter des Jahres 1943 war der 22jährige Sturzkampfflieger Joseph Beuys auf der Krim abgeschossen worden. Die Ju87 mit Beuys als Funker an Bord wird nach dem Angriff auf eine russische Flakstellung beim Wiederhochziehen der Maschine getroffen. Dem Piloten gelingt es gerade noch, das Fluggerät hinter die eigenen Linien zu steuern. Dann versagt jedoch plötzlich der Höhenmesser, und es setzt ein Schneesturm ein. Das Flugzeug kann nicht mehr gehalten werden und stürzt ab. Beuys wird bei dem Aufprall herausgeschleudert und unter dem Heck der Maschine eingeklemmt. Er verliert das Bewußtsein. Sein Kamerad ist auf der Stelle tot.

Daß Beuys den Absturz überlebte, ist ein Wunder. Eine Gruppe nomadisierender Tataren, so hat er es später erzählt, entdeckt das Wrack des Stuka und den schwerverletzten ohnmächtigen deutschen Soldaten. Sie bringen ihn in eines ihrer Zelte, pflegen den immer wieder in Bewußtlosigkeit Sinkenden, indem sie seine Wunden mit dem Fett ihrer Tiere salben und seinen Körper gegen die Kälte in Filz einwickeln. Sie flößen ihm Milch und Honig ein und füttern ihn mit Quark und Käse.

Beuys hatte einen doppelten Schädelbasisbruch erlitten, Rippen, Beine und Arme waren gebrochen, er hatte Splitter im Körper. Die Haare waren bis in die Wurzel hinein versengt, das Nasenbein war zertrümmert. Den Tataren, so hat es Beuys selber überliefert, verdanke er sein Leben: Als er einigermaßen über den Berg ist, fragen ihn seine Retter, ob er nicht bei ihnen bleiben wolle. Beuys war dieser Gedanke, so erinnert er sich später, nicht unsympathisch.

Joseph Beuys hat in seinem Werk ein mythisches Bild des Ostens überliefert. Vom Krieg behielt er keine Erinnerungen an Kämpfe und Verbrechen, Eroberungen und Niederlagen zurück, sondern solche an Steppe, Nomadentum und Schamanismus. Das ist ein Rilkesches Bild von einem Land, das vielleicht an Gott grenzt. Was in der Literatur nach 1945 nicht mehr geht, schafft Beuys mit seinen armen und geringen Materialien: von einem großen, gütigen und furchtbaren Reich zu berichten. Der Osten liegt in einem Zwischenraum von Natur und Kultur, wo das Volk lebt. Da geben viele namenlose Erzähler die Erfahrung von Mund zu Mund weiter, und da bleibt das Außerordentliche und Wunderbare immer möglich. Der Osten bildet ein Reservoir fürs Elementare: verborgene und verschüttete Lebenszusammenhänge, die uns eine andere Wirklichkeit des Menschen veranschaulichen.

Für die Kriegsgeneration des Zweiten Weltkriegs repräsentiert der Osten eine Existenz im Ausnahmezustand. Da beweist der „Arzt von Stalingrad“ im Ernstfall den wirklichen Adel des Menschseins – Heinz G. Konsalik ist wohl der populärste deutsche Erzähler dieser wenig korrekten Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Da irrt ein Flüchtling durch ein leeres, wüstes Land „so weit die Füße tragen“ – unter diesem Titel lief erstmals 1959 ein erfolgreiches Fernsehspiel nach dem autobiographischen Roman von Josef Martin Bauer, für die Kinder der Bundesrepublik ein Lehrstück über die verborgene Existenz ihrer Väter. Und von alledem singt die dunkle weiche Stimme von Alexandra ein schwermütiges Lied. Im Bild des Ostens ist eine Erfahrungswelt verkapselt, die sich nach dem Kriege nur in den „illegitimen“ Gattungen der Unterhaltungsliteratur, des Fernsehspiels und des Schlagers Ausdruck verschaffen konnte.

So kam eine Untersuchung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung aus den Jahren 1956/57 über das politische Bewußtsein ehemaliger Kriegsgefangener zu dem Ergebnis: Viele ehemalige Soldaten hatten das Gefühl, daß ihnen nicht die Ehre und der Respekt erwiesen worden waren, die sie für Kriegsdienst und Gefangenschaft verdienten. Anstatt als nationale Helden willkommen geheißen zu werden, kehrten sie in ein Land zurück, das mit einer Mischung aus Scham und Wut auf die von ihnen verkörperte Vergangenheit reagierte. Sie standen draußen vor der Tür.

In der harten Konkurrenz zu Flüchtlingen, Ausgebombten und Verfolgten des Naziregimes hatten sie keine besonderen Ansprüche zu stellen: weder auf Geld und Ehre noch auf Aufmerksamkeit und Zuspruch.

Das unterdrückte Verlangen danach, die persönlichen Kriegserlebnisse in eine gesellschaftlich relevante Kriegserfahrung einzubringen, hat in der Vorstellungswelt des Ostens einen heimlichen Container gefunden. Dabei legte sich in der kollektiven Deckerinnerung das Bild der Gefangenschaft über das des Krieges. Sibirien wurde zum Namen für den Nullpunkt der Existenz.

Bei den heute siebzig- bis achtzigjährigen Kriegsteilnehmern haftet am Bild des Ostens das Gefühl eines „anderen Zustands“. Durch die Erfahrung von Krieg und Kriegsgefangenschaft ist der Bewohner des Ostens zu einem phantastischen Wesen geworden: Mal ist er von einer kindlichen Grausamkeit, mal von einer überwältigenden Herzlichkeit und begeisterungsfähigen Hilfsbereitschaft. Nur reizen darf man den „russischen Bären“ nicht, dann nämlich kennt seine Vergeltungswut keine Grenzen. Die ideologische Projektion des „russischen Untermenschen“ ist offenbar durch die psychologische der „russischen Seele“ ersetzt worden. Aber die Vorstellung eines ursprünglichen und urtümlichen Volkes ist geblieben.

II

Einem Engländer oder Franzosen, der einen Deutschen so über die Russen reden hört, ist das Symbiotische dieses Verhältnisses sicher nicht ganz geheuer. Denn der „Russe“ ist der „Deutsche“ – schwermütig, unberechenbar, verträumt und verrückt. Aus dem Weltkriegssoldaten Joseph Beuys ist schließlich selbst ein Tatare geworden, der mit Filz, Fett und Honig die Wunden der Welt zu heilen sucht.

Mitte der siebziger Jahre brach eine ganze Kohorte kulturbewußter Westdeutscher zu „empfindsamen Reisen“ durch die Provinzen der DDR auf. Man suchte eine deutsche Idylle, die noch nicht von amerikanischer Lebensart überschwemmt worden war. Der Reiseschriftsteller Horst Krüger veröffentlichte seine Reiseberichte Anfang der achtziger Jahre unter dem wenig zurückhaltenden Titel „Tiefer deutscher Traum“ (Hoffmann & Campe, 1983). Still und heimlich pilgerte man zu Goethe und Schiller nach Weimar, man begab sich nach Rügen, um in den Anblick einzutauchen, der einst Caspar David Friedrich inspiriert hatte, man bewunderte in Rostock, Wismar und Greifswald die deutsche Backsteingotik, man war ergriffen vom schwebenden Engel Ernst Barlachs in Güstrow, und man ergötzte sich an den wiedererrichteten kulturellen Denkmälern Augusts des Starken in Dresden.

Der melancholische Blick konnte sich nicht satt sehen. Im Osten war Deutschland deutscher geblieben. Die Jugend war adretter, die Orte waren beschaulicher und die Straßen staubiger als in der Bundesrepublik. Die Leute kannten keine quälerischen Selbstzweifel, was ihren Lebensstil und ihren Sozialstatus betraf, sie lebten ihr Leben unbedrängt von den Verlockungen des Konsums, sie gaben sich einfach so, wie sie waren: unangestrengt kleinbürgerlich und ungeniert selbstzufrieden.

Von der Verblendung durch den Staatssozialismus war für die Besucher aus dem Westen nicht viel zu spüren. Für den einzelnen DDR-Bürger standen die konkreten und praktischen Dinge des Lebens im Vordergrund. Die öffentliche Ideologie hatte für die private Existenz anscheinend keine Bedeutung. Günter Gaus, von 1974 bis 1981 der erste ständige Vertreter der Bundesrepublik in der DDR, brachte diese Erfahrung auf den Begriff. Mit der verhaltenen Liebe des protestantischen Norddeutschen sprach er vom „Staatsvolk der kleinen Leute“, in dem sich irgendwie das Lebensgefühl der Niederlage nach dem Zweiten Weltkrieg konserviert hatte. Man trug erkennbar schwerer an der Schuld, die der Nationalsozialismus allen Deutschen aufgebürdet hatte. So beschlich die Besucher aus der reichen und demokratischen Bundesrepublik bei ihren Bildungsreisen ein Gefühl des Verlusts: als ob der mit der bedingungslosen Hingabe an die USA verbundene Verzicht auf eine eigene Identität erst im Osten zu spüren sei.

Für Günter Gaus und seine Altersgenossen aus der Flakhelfer- Generation liegt der Osten nicht mehr in Rußland, sondern in Deutschland. Die deutsche Teilung hatte einen neuen Osten hervorgebracht, wodurch ein anderer Komplex von Einstellungen, Referenzen und Erfahrungen entstand: Das Eigene lag plötzlich im Fremden. Um dieses Fremde als Eigenes erhalten zu können, wurde die Kultur beschworen. Kultur definierte die imaginäre Einheit einer erst staatlich und dann gesellschaftlich geteilten Nation. Dadurch bekam die gemeinsame „Kulturnation“ jedoch von Anfang an einen gewissen tragischen Ton. Sie mußte nämlich bewahren, was für lange Zeit verloren schien.

Wenn nach 1945 von der deutschen Kultur die Rede war, wogen die östlichen Verluste meist schwerer als die westlichen Gewinne. Und am Ende war die deutsche Kultur nur noch im Osten und nicht mehr im Westen zu finden.

Merkwürdigerweise waren es besonders die von der amerikanischen Zivilität beeindruckten Repräsentanten der skeptischen Generation, die den deutschen Osten zum verborgenen Reservoir einer versunkenen Kultur machten. Günter Grass, Siegfried Lenz und Horst Bienek haben auf ganz unterschiedliche Weise schon in ihren frühen Werken die verlorengegangenen deutschen Ostgebiete in eine kulturelle Traumlandschaft verwandelt.

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Da waren noch Geschichten möglich, die man sich im großen Konsumverein nicht vorstellen konnte. Der deutsche Osten wurde zu einem phantastischen Raum vitaler Erregung und seelischen Trosts, die man im panischen Idyll des bundesrepublikanischen Wiederaufbaus so sehr vermißte. Ließ das Bewußtsein, einer Täternation anzugehören, für die zornigen jungen Leute der frühen Bundesrepublik allenfalls den Ausweg einer negativen Identifikation mit „unserem Auschwitz“ (Martin Walser im Kursbuch, Nr.1, 1965) zu, so konnte sich im Bild des Ostens die wilde Einbildungskraft einer anderen Vergangenheit entfalten.

Es sieht wie ein Mechanismus psychischer Ersatzbildung aus: Der Osten wird zum geheimen Wunschbild einer kulturellen Heimat, die der Nationalsozialismus zerstört hat.

Aus diesem Zusammenhang heraus ist die melancholische Wende in bezug auf die DDR am Anfang der achtziger Jahre zu verstehen. Für Gaus und die anderen war die DDR eine realexistierende Traum- und Trostlandschaft. Als hätte eine literarische Einbildungskraft das andere Deutschland geschaffen.

Das „Staatsvolk“ im Osten erschien kleiner und reiner als die pralle Erlebnisgesellschaft im Westen. Die stillgestellte Zeit hielt das Einfache und Karge der Nachkriegsperiode fest, in der Kunst und Kultur noch eine existentielle Bedeutung hatten. Es hatte fast den Anschein, als hätten sich unter dem russischen Protektorat Reste einer deutschen Kultur erhalten, die im Einflußbereich des amerikanischen Traums keinen Platz mehr hatten.

Als dann noch Preußen und Bismarck als sozialistische Kulturgüter wiedergewonnen wurden, schien die DDR der deutschere deutsche Staat geworden zu sein. Es klingt wie eine Ironie der Geschichte, daß in dem Maße, wie für die meisten DDR-Bürger der Westen mehr und mehr als Konsumparadies leuchtete, für manchen kritischen Bildungsbürger aus der Bundesrepublik der Osten den matten Glanz von edler Einfalt und stiller Größe annahm.

III

Das deutsche Bild vom Osten war allerdings immer schon ziemlich ambivalent. So träumte der unpolitische Thomas Mann 1921 in der Einleitung zu einer russischen Anthologie von einer konservativ-revolutionären Synthese aus Nietzsche und russischer Seele.

Was den Franzosen der Atlantik, den Engländern das Empire, ist den Deutschen der Wald, die Steppe und die Felder im Osten. Ganz fühlt sich das Disziplinvolk nur, wenn es sich seinem Heimweh und seiner Sehnsucht überläßt.

Aber der Osten ist nicht nur ozeanisches Refugium, sondern zugleich rettender Anker eines festen Systems der Sittlichkeit. Niemand anders als Max Weber hat die ostelbischen Gutshöfe – in seiner akademischen Antrittsrede von 1895 „Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik“ – als gesellschaftliche Intelligenzzentren betrachtet, die eine politische und kulturelle Kraftreserve der Nation gegenüber einem spießigen städtischen Bürgertum darstellen könnten.

Im Osten gibt es noch die Fähigkeit des Hasses gegen das Kleine, denn in der ländlichen Welt herrscht ein Modell der Lebensführung, dem Ehre und Würde wichtiger sind als die nervöse Kompetenz der glatten Einpassung ins funktional differenzierte „Gehäuse der Hörigkeit“.

Andererseits ging für Max Weber von Rußland zugleich die größte Gefahr für die europäische Kultur aus. Die weltgeschichtliche Aufgabe Deutschlands bestand für den jungen Nationalökonomen darin, die Mitte zu halten zwischen den Konventionen der angelsächsischen society auf der einen und den Reglements des russischen Beamten auf der anderen Seite. Als 1918 die angelsächsische Weltherrschaft durch den Aufstieg Amerikas unabwendbar scheint, wird Webers Ansicht nach die „russische Knute“ zum entscheidenden Bezugspunkt der künftigen deutschen Weltpolitik.

Das Sehnsuchtsland war dem deutschen Geist also zugleich eine Quelle größter Gefahr. Wo man zu dem Zaren ähnlich wie zu Gott spricht, lebt ein dunkles und fremdes Volk, das unsere abendländische Rationalität mit seinem schweren Zeremoniell zu ersticken droht. „Väterchen“ – das ist Gott, der Zar und später Stalin. In der Nachfolge des „progressiven Imperialisten“ Weber haben viele westliche Marxisten in der Spiritualität des russischen Kommunismus die Seele der Volksfrömmigkeit und den Geist der Klöster erblickt.

Selbst die stalinistischen Verbrechen lassen sich auf die Tradition des orthodoxen Christentums zurückführen, das immer dann, wenn es politisch wurde, frömmelnd und brutal, diktatorisch und mystisch, konformistisch und zynisch gewesen ist. Die Kommunistische Partei steht demnach am Ende des oströmischen Wegs, die der atlantischen Tradition von Anfang an den Kampf angesagt hatte. Diese ganz große Linie hat zuletzt Otto Kallscheuer gezogen („Gottes Wort und Volkes Stimme“, Fischer Taschenbuch, 1994). Der Kampf zwischen West- und Ostrom scheint fürs erste entschieden zu sein. Der Westen hat 1989 den Sieg über den Osten davongetragen. Die charismatische Herrschaftsform des russischen Kommunismus ist an den Gesetzen der Veralltäglichung gescheitert. Heute stehen uns die enormen Kosten des „Gesamtkunstwerks Stalin“ (Boris Groys) vor Augen.

Damit ist ein blutiges Kapitel europäischer Kunstreligion zu Ende gegangen. Der Intellektuelle, der in der totalitären Welt des Kommunismus dem modernen Schicksal „transzendentaler Obdachlosigkeit“ (Georg Lukács) entkommen konnte, ist nun scheinbar endgültig auf sich zurückgeworfen. Auch aus dem Osten kommt kein Sinn mehr.

IV

Heute ist der Osten keine Traum- und Seelenlandschaft mehr, sondern in erster Linie eine Trash- und Konsumlandschaft. Dem westlichen Besucher fällt der unbekümmerte Genuß der wunderbaren Natur schwer. Die Informationen von den verschiedenen Altlasten haben seinen Blick argwöhnischer und genauer werden lassen. Überall hinter den blühenden Landschaften sind kontaminierte Reste der sozialistischen Moderne zu vermuten. Man kennt die Bilder notdürftig gesicherter menschenleerer Zonen und riesiger, mit industriellem Gestänge übersäter Krater. Der Betrachter schwankt zwischen spontanem Entsetzen und romantischer Erhebung angesichts dieser realexistierenden Ruinen.

Aber nicht allein die Natur des Ostens ist verdorben, die Gesellschaft ist es gleichermaßen. Berichte aus Rußland über skrupellose Abenteuerkapitalisten, mafiöse Altkader und marodierende Straßenbanden lassen das Bild eines anomischen Gesellschaftszustands entstehen. Es regiert der Gelegenheitserwerb durch Gewalt und Betrug, wobei der Staat und seine Beamten keine Ausnahme machen.

Der Beobachter aus dem bürgerlichen Westen fragt sich, wie ein Staat in einer regellosen Gesellschaft Ordnung durchsetzen soll, wenn seine eigenen Vertreter von der herrschenden Unordnung infiziert sind. Es scheint unmöglich, die kurzfristigen persönlichen mit den langfristigen allgemeinen Interessen zu harmonisieren. Das Volk zerfällt in die Leute, die alle ihren kleinen Vorteil suchen und auf das große Glück hoffen. Der extreme russische Fall veranschaulicht eine grundsätzliche Irritation im Bild vom Osten. Ostdeutschland und alles, was sich ostwärts daran anschließt, will sich dem westlichen Blick nicht mehr fügen. Das hängt mit der atemberaubenden Erfahrung des Konsums zusammen, die in der Freiheit besteht, Altes wegwerfen und Neues kaufen zu können.

Der autonome Konsument war im Osten die erste Sozialfigur der neuen Freiheit. Es gibt keine Klasse an der Spitze mehr, die die Macht hat, Dinge für dauerhaft oder vergänglich zu erklären. Der Konsument entscheidet selbst, woran er sein Herz hängt und was für ihn nur einen vorübergehenden Gebrauchswert besitzt. In der praktischen Definition des Abfalls verwirklicht sich seine einzigartige Freiheit.

So scheinen die Bewohner des neuen Ostens höchsten Gefallen daran zu finden, das wertvolle Alte wegzuwerfen und durch das billigste Neue zu ersetzen. Der gnadenlose Konsumismus, der vor nichts Respekt hat, alles vergänglich macht und in Abfall transformiert, ist längst nicht mehr in den „postmaterialistischen“ Wertegesellschaften des Westens, sondern vor allem in den „postsozialistischen“ Aufholgesellschaften des Ostens zu entdecken.

Mühsam versuchen einige kulturbewußte Ethnologen aus dem Westen die wertvollsten Dinge des realen Sozialismus in Museen der Alltagskultur zu konservieren, aber gegen den östlichen Warenfetischismus kommen sie nicht an. Was den einen als bloßer Abfall erscheint, ist den anderen ein riesiges Reservoir des Dauerhaften, das später als Dokument einer vergangenen Epoche studiert werden wird.

Einige Jüngere und Klügere aus dem Osten haben verstanden, daß das Bild vom Osten durchaus seine eigene Chance hat in den endlosen Mutationen unserer großen populären Kultur – aber nicht als das unterdrückte Wahre oder verlorene Ganze.

Der Osten könnte sich von seiner Erfindung durch den Westen emanzipieren, wenn er sich als eine Position unter anderen begreift, die in manchen Situationen mit Aussicht auf Erfolg verteidigt werden kann, in anderen vielleicht besser vergessen werden sollte.

Als ein Beispiel für eine solche Strategie des Einsatzes der eigenen Kultur mag man Jim Jarmuschs Klassiker „Stranger than Paradise“ nehmen, in dem auf den Spuren Andy Warhols vorgeführt wird, wie der Osten in Gestalt der kleinen Cousine aus Ungarn in den Westen kommt. „Put A Spell on You“ heißt der Song, den man dauernd aus ihrem mickrigen Kassettenrecorder zu hören bekommt. Screamin' Jay Hawkins' Interpretation des Stücks ist natürlich grandios, aber ohne den sehnsuchtsvollen Blick des Mädchens aus dem Osten hätten wir den Song möglicherweise schon wieder vergessen.

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