: Toskanischer Holzmann muß erwachsen werden
■ „Pinocchio“ lebt: Der Bremer Kulturwissenschaftler Dieter Richter hat sich auf seine Spuren begeben
Die Wege zum akademischen Stoff sind selten direkt. Das naheliegendste Motiv, warum Dieter Richter seine Studie „Pinocchio oder Vom Roman der Kindheit“ geschrieben hat, scheidet aus. „Ich habe Pinocchio nie als Kind gelesen. Erst als Erwachsener bin ich in Italien auf die Materie gestoßen.“ Bücher über Themen zu schreiben, die man leichthin als Kinderkram abtun könnte, ist Richters Beruf. Seit 1972 ist er Professor für Literaturgeschichte in Bremen und beschäftigt sich mit Kinderliteratur – Kinderbuchforschung als Archäologie der Kindheit.
Artikel über die Frage, ob der kleine Holzmann homosexuell war, erinnern an die Schrullen der Donaldisten. Doch im Gegensatz zur Entenhausen-Juxforschung gehört die akademische Beschäftigung mit Pinocchio in Italien zur identitätsstiftenden Literaturwissenschaft. Die Streiche des Holzmanns sind dort kein Kinderkram. Das weckte Richters Interesse: Er wühlte in Bibliotheken, besuchte Pinocchio-Kongresse – mit Erfolg. Richter: „Im Pinocchio findet sich eine Struktur, die ich den Roman der Kindheit nenne.“ Deutlich sei hier ausformuliert, wie sich ein Buch mit Kindheit und dessen schmerzhaftem Ablösungsmechanismus, dem Erwachsenwerden, befaßt. Das Angepaßtsein steht unausweichlich am Ende von Pinocchios Streichen. „Sein Leitmotiv ist die Rebellion gegen die Zumutung, in einer Welt erwachsen werden zu müssen, in der das Erwachsensein das Ende der Kindheit bedeutet – und zugleich die Einsicht in die Unvermeidlich-keit dieser Verwandlung“, so Richter. Dabei ist für den Kindheits-Archäologen das Material, aus dem der Bengel ist, entscheidend. Pinocchio ist wortwörtlich aus anderem Holz geschnitzt als die anderen.
Erfreulicherweise beschränkt sich Richter nicht darauf, Carlo Collodis Fortsetzungsroman zu durchleuchten. Auch die rekordverdächtigen 38 deutschen Übersetzungen, der Disney-Film und die japanische Zeichentrickserie fließen in die Betrachtung der Figur ein. Richter: „Zunächst ist das Buch ein italienisches Buch, ein toskanisches, das ist wichtig. Dann gibt es vielfältige Versuche, den Pinocchio zu akkulturieren.“
Im Original ist spürbar, daß Autor Collodi gar nicht dem Ideal des lernbegierigen Kindes entsprach. Ein gemütlicher Genußmensch schrieb in Florenz das Buch, kein Pädagoge. Collodi muß sich immer wieder zusammenreißen, um zu einem moralisch sauberen Ende zu kommen. Bei den ersten kaiserlich-deutschen Übersetzungen wird der anarchische Tenor entschärft, Pinocchio wird eingedeutscht und ist nur noch an der langen Nase zu erkennen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg darf der impertinente Lausbube seinen eigenen Namen tragen.
In der heutigen Zeit sind die Kinderfiguren Medienfiguren geworden. Der japanische Zeichentrick-Pinocchio ist wieder ein ganz anderer, weniger subversiver Bengel als im Original, dafür aber einer, der auf der ganzen Welt gekannt und verstanden wird. Der Fernseh-Pinocchio kennt nur noch Spaß und Schabernack, die Zerrissenheit des toskanischen Holzmannes wird den Zuschauern vorenthalten. Das globale Unterhaltungseinerlei absorbiert den Roman der Kindheit.
Im Zeitalter des Fernsehens, so Neil Postman in „Das Verschwinden der Kindheit“, verschwimmt die Grenze zwischen Kindheit und Erwachsenenwelt immer weiter. Richter kommt zu demselben Schluß.
Der Episodencharakter der Zeichentrick-Serie dehnt Pinocchios Streiche ins Unendliche aus, erwachsen wird er nie. So gelangt ein Hauch Kindheit in die Erwachsenenwelt. Zu Kulturpessimismus sieht Dieter Richter deswegen hier keinen Anlaß. „Für Postman ist das Verschwinden der Kindheit ein Grund zur Trauer. Ich würde es eher so lesen, daß sich Kindheit und Erwachsenensein wieder annähern.“ Des Holzmanns lange Nase als lebensfrohe Würze im Unterhal-tungsbrei – ein netter Gedanke zumindest.
Lars Reppesgaard
Dieter Richter: „Pinocchio oder Vom Roman der Kindheit“. S.Fischer Verlag
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