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Chaos mit Tradition: Das Spektakel zum Sommerschlußverkauf

■ Durch eine Punkerkartei der hannoverschen Polizei wurden vor vierzehn Jahren die ersten Chaos-Tage ausgelöst

„Bunte Gruppen sind verdächtig“ – unter dieser Überschrift dokumentierte die taz am 5. 11. 1982 eine Verfügung des damaligen hannoverschen Polizeipräsidenten Gottfried Walzer, die die Errichtung einer „zentralen Nachrichtensammel- und Auswertungsstelle für alle Erkenntnisse über sogenannte Punker“ anordnete. Gut zweihundert Bunthaarige hatte der polizeiliche Staatsschutz damals in Hannover in einer illegalen „Punkerkartei“ erfaßt. Nach Meinung der Punks waren das noch viel zuwenig: Mit dem Slogan „Einmalige Chance in Hannovers Punkerkartei zu gelangen“ warben sie für ein großes Punker-Treffen in Hannover. Es wurde der allererste „Chaos- Tag“. An einem verkaufsoffenen Adventssamstag feierten 800 Bunthaarige in der City „den Untergang Hannovers“.

Daraus entwickelte sich in den folgenden Jahren ein regelrechtes Ritual. An den ersten Augustwochenenden der Jahre 1983 und 1984 zog es jeweils 2.000 Punks zum Sommerschlußverkauf nach Hannover: Die Jugendlichen lagerten in der Innenstadt, soffen, knutschten, schnorrten Passanten an. Sie standen einmal im Jahr nicht am Rande, sondern im Blickpunkt der Medien. Die Polizei reagierte auf das bunte Treiben schon damals mit einer Mischung aus Ohnmacht und Härte: 800 Punks sperrte sie 1984 in einem Jugendzentrum ein, ließ sie dort eine Nacht lang dursten und schmachten. Von Hannover hatten die Punks daraufhin erst mal die Nase voll.

Chaos-Tage aber waren zur Punk-Institution geworden: Immer wenn sich irgendwo auch nur hundert Bunthaarige zum öffentlichen Feiern zusammenfanden, nannte sich dies Chaos-Tag. Erst eine neue Punkgeneration ließ im Jahre 1994 die hannoverschen Chaos-Tage wieder aufleben. Sie mobilisierte zur „größten Punkfete der letzten zehn Jahre“. Die Polizei reagierte an diesem ersten Augustwochenende wie gehabt. Sie nahm 600 Punks in Gewahrsam, viele davon gleich vorbeugend bei der Anreise am Hauptbahnhof. Angeblich hätten die Bunthaarigen Hannover „in Schutt und Asche legen“ wollen, lautetet die Begründung.

Für die „internationalen Chaos-Tage 1995“ kündigten die Punks gleich von sich aus die „größte Massenfestnahme aller Zeiten“ an und stellten die „Riesenpunkerfete“ unter das Motto: „Ab ins Lager!“ Die diesmal im In- und Ausland verbreiteten Flugblätter propagierten ein „Hannover in Schutt und Asche“, „Giftgasangriffe“ und „Atombomben“. Die Polizei verordnete sich für 1995 ein „Offensivkonzept“ und bereitete Massenfestnahmen vor. Den Ordnungskräften gelang es allerdings nicht, Hannover zur punkerfreien Zone zu machen. Mehr als 1.000 Bunthaarige wurden ohne Rücksicht auf Rechtsgrundlagen vorbeugend eingesperrt und etwa doppelt soviel schon am Bahnhof postwendend zur Heimreise aufgefordert.

Trotzdem entzogen sich mehrere tausend Jugendliche dem polizeilichen Zugriff. Sie machten zwei Tage lang die Stadt mit spontanen Aktionen unsicher und lieferten sich in einer Straße in der Nordstadt Hannovers Barrikadenkämpfe mit der Polizei. Dabei wurden 244 Polizisten verletzt, die CDU forderte daraufhin den Rücktritt des Innenministers Glogowski. Jürgen Voges

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