■ Vorlesungskritik: Lehrbücher, die einschüchternd aussehen
Es sieht zunächst nach einem Druckfehler im Vorlesungsverzeichnis aus. In einem schäbigen, winzigen Seminarraum soll Michael Burda, von der Zeit als „Nachwuchsstar“ gefeierter Professor der Volkswirtschaft, seine Vorlesung über Beschäftigungstheorie halten, das zur Zeit wohl brisanteste Teilgebiet des Fachs. Doch es stellt sich heraus, daß der kleine Raum völlig ausreicht. Nur fünfzehn Studenten erwarten den vor 37 Jahren in New Orleans geborenen Karriere-Ökonomen, der 1987 in Harvard mit „Essays über den Anstieg der Arbeitslosigkeit in Europa“ promovierte und seither als Professor an einer französischen Managementschule lehrte, bis er 1993 dem Ruf nach Berlin folgte.
Das Wesen eines Musterschülers, das ihm die rasche Karriere ermöglichte, hat Burda sich bewahrt. Unentwegt überträgt er Formeln aus seinen Aufzeichnungen auf die Tafel. Hat er sie vollgekritzelt, wischt er all die Gleichungen und Integrale wieder weg und beginnt von neuem, bis der Ärmel seines Leinen-Sakkos völlig mit Kreide eingestaubt ist. „Sie ham's aufgeschrieben“, rechtfertigt er seinen Putzeifer, „jetzt isses in Ihren Aufzeichnungen“.
Seine sparsamen Erläuterungen zu dieser mathematischen Masturbationsübung, die sich häufiger an die Wand als ans Auditorium richten, tragen zum Verständnis kaum etwas bei. „Das haben Sie so oft gesehen in der Mikroökonomie“, kommentiert er mit kindlicher Freude, „das macht Spaß, wenn man das wiedersieht und merkt, daß es einen Sinn hat“. Die Studenten kann er damit nicht begeistern. Nur ein einziger, dessen Kleidung eine besondere Affinität zu Burda verrät, meldet sich gelegentlich zu Wort. „Warum schreiben Sie kleiner gleich?“ Burda scheint erstmals über den Sinn seiner Formeln nachzudenken, zögert einen Moment und ersetzt „kleiner gleich“ kommentarlos durch „größer gleich“.
Auch das Lehrbuch zur Makroökonomik, das Burda selbst geschrieben hat, ist ungewöhnlich unverständlich. Es sei bisweilen schwierig, bemerkte der Rezensent des Economic Journal, zwischen dem ganzen Beiwerk an Formeln, Tabellen oder Graphiken überhaupt noch den Text zu finden. Das Übermaß an Mathematik verleihe manchen Seiten ein etwas einschüchterndes Aussehen. Positiv bemerkte er aber, daß Burda, der persönlich neoliberalen Positionen anhängt und die hohe Arbeitslosigkeit in Europa auf die starren Tariflöhne und eine üppige Alimentierung der Arbeitslosen zurückführt, im Lehrbuch zwischen den Positionen der verschiedenen Schulen vermittelt. Er betreibe „scientific not gladiatorial macroeconomics“.
Nach neunzig Minuten verwundert es nicht mehr, daß Burdas Darbietungen nicht hörsaalfüllend sind. Vielleicht ist das weniger sein persönliches Problem als das seiner Zunft, deren mathematischen Modellen die durch nichts gerechtfertigte Annahme zugrundeliegt, der Mensch verhalte sich rational. Wenn Burda in seiner Vorlesung die Bemerkung fallenläßt, das Menschenleben sei der entscheidende Maßstab des Arbeitsangebots, erscheint das beinahe als illegitimer Einbruch der Lebenswelt.
Längst vergangen sind die Zeiten, als die Lehre von der Volkswirtschaft noch Nationalökonomie hieß und die moderne Sozialwissenschaft hervorbrachte. Max Weber oder Werner Sombart lockten mit ihren Vorlesungen mehr als fünfzehn Hörer an. Ralph Bollmann
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