Türkische Gefangene hungern dem Tod entgegen

■ 1.500 politische Häftlinge protestieren gegen den Justizminister – den läßt's kalt

Istanbul (taz) – Muharrem Baytemur, Vorstandsmitglied der türkischen Ärztekammer, redet nicht um den heißen Brei herum. Für viele Gefangene existiere kaum mehr Hoffnung, ins Leben zurückzukehren. „Wenn der Hungerstreik nicht aufhört, wird es zu vielen Toten kommen.“ In über 33 türkischen Gefängnissen befinden sich derzeit rund 1.500 politische Gefangene im Hungerstreik, ein Teil der Häftlinge seit 55 Tagen. Es sind Angehörige der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und illegaler linksradikaler Organisationen.

Gezuckertes und gesalzenes Wasser ist das einzige, was die Gefangenen zu sich nehmen. Grund des Hungerstreiks ist eine Verfügung des türkischen Justizministeriums vom 6. Mai, welches den Strafvollzug verschärft. Doch auch Untersuchungshäftlinge sind betroffen. Sie können an einem Ort in Untersuchungshaft einsitzen, während ihr Prozeß Hunderte Kilometer entfernt stattfindet. So soll weitgehend verhindert werden, daß Rechtsanwälte und Familienangehörige sich zu den Prozeßterminen einfinden.

Urheber der Verfügung ist Justizminister Mehmet Agar, der einstige Polizeichef des Landes. Agar ist ein Falke. Während seiner Amtszeit als Polizeichef verbreiteten sich Folterungen und Morde an Festgenommenen, die von Polizeibeamten begangen wurden.

Die Verschärfung der Haftbedingungen paßt ganz ins politische Kalkül des Justizministers. Die Tageszeitung Cumhuriyet veröffentlichte einen Brief der Untersuchungsgefangenen Ayten Anlas, die ins berüchtigte Gefängnis Eskișehir eingeliefert wurde, das über Jahre wegen menschenunwürdiger Haftbedingungen geschlossen war: „Seitdem Mehmet Agar Justizminister ist, werden die Särge [kleine Zellen, in denen selbst das Stehen unmöglicht ist] benutzt. Alle Rechte sind uns genommen worden. Der Besuch der Familienangehörigen ist verboten. Zeitungen, Radio, alles ist verboten.“

Als Gefangene aus Protest versuchten, sich zu verbrennen, quittierte Agar dies mit folgenden Worten: „Es ist ihr Problem, wenn sie sich verbrennen.“ Agar läßt sich auf keinen Dialog ein. „Der Staat hat die Situation in den Gefängnissen unter Kontrolle. Er wird keine Konzessionen machen“, verkündete er. Vertreter des türkischen Menschenrechtsvereins empfing er erst gar nicht.

„Ein demokratischer Rechtsstaat darf doch nicht auf Rache aus sein“, empörte sich der sozialdemokratische Abgeordnete Ercan Karakas, und der Vorsitzende des Menschenrechtsvereins, Akin Birdal, machte den Justizminister für jeden Toten verantwortlich. Zahlreiche Verbände, wie die Ärztekammer und die Anwaltskammer, haben den Justizminister vergeblich aufgefordert, einzulenken. Doch der setzt auf den Polizeiapparat, dem er einst vorstand. Dutzende landesweite Protestaktionen von Familienangehörigen wurden mit Polizeiknüppeln auseinandergetrieben. Selbst prominente Schriftsteller und Musiker, die jüngst im Vergnügungsquartier Ortaköy eine Erklärung zum Hungerstreik verlesen wollten, wurden festgenommen. „Sollen wir die denn füttern, anstatt sie aufzuhängen?“ war ein vielzitierter Spruch des Putschistengenerals Kenan Evren nach dem Putsch 1980. Diese Devise habe sich Justizminister Agar zu eigen gemacht, steht mittlerweile in kritischen türkischen Tageszeitungen zu lesen. Ömer Erzeren