Der Frieden in Bosnien hängt am Faden des Posavina-Korridors

■ Das von Serben, Muslimen und Kroaten begehrte Gebiet um Brčko könnte unter internationale Verwaltung kommen

Tuzla (taz) – Die Straße, die von der bosnisch-serbischen Hochburg Banja Luka östlich über Brčko in die serbische Hauptstadt Belgrad führt, ist voller Schlaglöcher. Schon manche Personen- und Lastwagen kamen hier zu Schaden. Dennoch ist diese Straße viel befahren, denn sie ist die einzig sichere Verbindung zwischen den Serbengebieten West- und Ostbosniens. Sie führt bei Brčko durch den sogenannten Posavina-Korridor. Und der ist an einer Stelle nicht einmal 4 Kilometer breit.

Hier an dieser Stelle wurde der Krieg über drei Jahre lang besonders heftig geführt. Um den Korridor zu schaffen, griffen serbische Freischärler mit Unterstützung von Truppen der jugoslawischen Volksarmee Brčko schon im April 1992 an. Im Juni 1992 war der Ort vollständig in serbischer Hand. Die Brücke über die Sava nach Kroatien wurde gesprengt – damit wurde die Verbindung zwischen Zentralbosnien mit der Industriestadt Tuzla und Kroatien unterbrochen. Die kroatische und muslimische Mehrheitsbevölkerung wurde aus der serbisch besetzten Zone vertrieben. Die Kroaten konnten noch das Gebiet um Orasje halten; nach 1992 kam es von hier aus und von seiten der muslimischen Gebiete immer wieder zu Gegenangriffen. Wäre es den bosnischen und kroatischen Truppen bei ihrer Offensive 1995 gelungen, bei Brčko durchzubrechen, hätten sie das serbische Gebiet in Bosnien durchteilt und den Krieg mit einer vollständigen serbischen Niederlage entschieden.

In Brčko kreuzen sich die Verkehrswege aller Seiten

Eine sofortige Regelung über den Posavina-Korridor wurde bei den Friedensverhandlungen in Dayton ausgeklammert – sonst wäre das Abkommen wohl gescheitert. Alle Seiten haben nämlich ein elementares Interesse an dem Korridor: Die bosnisch-muslimische Seite will endlich einen freien Zugang aus Zentralbosnien nach Kroatien und zu dem Sava-Fluß, wo internationale Verbindungen zum Schwarzen Meer wie zur Nordsee hin möglich sind. Die serbische Führung hat ein eigenes Interesse: Der Verlust des Korridors an die muslimisch-bosnische Seite würde die ohnehin schwerlich lebensfähige bosnisch-serbische Republik in zwei Teile zerreißen. Nur die kroatische Seite schwankt: Einerseits wollen die Vertriebenen zurück in das ehemals mehrheitlich kroatisch besiedelte Gebiet der Posavina – andererseits garantiert die serbische Kontrolle über den Korridor, daß die einzige verbliebene Verbindung zwischen Zentralbosnien und Kroatien über das Territorium der kroatisch-bosnischen „Herceg-Bosna“-Extremisten um Mostar führt.

In Dayton wurde daher lediglich festgelegt, daß Vertreter aller Seiten im Rahmen einer Kommission Vorschläge ausarbeiten sollten, um bis Dezember 1996 eine für alle akzeptable Lösung zu finden. Diese Kommission ist jetzt gebildet worden. Doch ein Kompromiß ist angesichts der diametral entgegengesetzten Interessen ohne internationale Hilfe schwerlich zu erreichen. Jede Seite will ihre Maximalforderungen erfüllt sehen. Um ihre Ansprüche geltend zu machen, siedelte die serbische Seite zum Beispiel Tausende von Serben, die im April die Region um Sarajevo verlassen hatten, in Brčko an. Die muslimische Seite organisierte dagegen in den letzten Wochen aus dem gleichen Grunde Massendemonstrationen der Vertriebenen, die in der Region Tuzla untergebracht sind.

Wie könnte eine Regelung aussehen, die die Interessen aller Seiten berücksichtigt? Im Hauptquartier der US-Truppen wie bei den internationalen Organisationen in Tuzla scheint sich die Waage einem Vorschlag des Bürgermeisters von Tuzla, Selim Beslagić, zuzuneigen. Danach soll das Gebiet um Brčko eine international kontrollierte Freihandelszone werden. Alle Menschen, gleich welcher Herkunft oder Religionszugehörigkeit, sollten Zutritt erhalten, auch die Vertriebenen sollten zurückkehren können. Die Straßen-, Eisenbahn- und Schiffahrtsverbindungen sollten für alle offen sein; das Gebiet sollte ein Stück der wichtigen Eisenbahnlinie Sarajevo–Tuzla–Zagreb–Belgrad ebenso umfassen wie die wichtigste Brücke über die Sava nach Kroatien und den Hafen von Brčko. Die internationale Gemeinschaft sollte den Status des Gebietes durch die Anwesenheit von Truppen auch über das Abzugsdatum von Dayton hinaus garantieren.

Die Vorteile dieses Vorschlags liegen auf der Hand: die serbische Seite könnte weiterhin die Straßenverbindung Banja Luka–Belgrad nutzen, ohne eine Kontrolle durch die muslimisch-bosnische Seite befürchten zu müssen. Tuzla bekäme seinerseits endlich Anschluß an Kroatien.

Doch noch ist bei den Verhandlungen kein Druchbruch erzielt. Karadžić hat in der letzten Woche den serbischen Unterhändler zurückgepfiffen. Die serbischen Extremisten fürchten – so ließen Sprecher der UN-Flüchtlingskommission UNHCR erkennen – vor allem das Wiedererstehen eines multiethnischen Gebietes in Bosnien, das als Freihandelszone eine hohe Attraktivität auch bei den Serben gewinnen würde. Und nichts ist gefährlicher für Karadžić, als die Kontrolle über alle Serben Bosniens zu verlieren. Erich Rathfelder