Jenseits von Mottram Hall: Die heilige Schrift
■ Beim Warten auf die Strafstöße schlägt die Stunde der Experten
Jetzt, wo fast alle Spiele durch Elfmeterschießen entschieden werden, weil keiner mehr gewinnen will, sondern alle nur noch nicht verlieren – jetzt also, wo man sich 120 Minuten zu langweilen hat, ehe dann ganz schnell und allzu aleatorisch die Entscheidung fällt – jetzt ist die Stunde der Experten gekommen, die uns alle Zeit der Welt bis zur Strafstoß-Exekution vertreibt. In der Presse las ich eine ganze Seite von einem Schuhexperten über Klinsmanns
Das ist Susanne FISCHER
Ihre Spieler: Blind und Platt. Aus albernen Gründen.
Ihr Team: England. Es befand sich kurzfristig im Stande der Gnade.
Europameister 96: Deutschland, weil Ordnung muß sein.
Schuhe. Wer sie zuvor schon getestet habe, warum man damit praktisch Tore schießen müsse, und wie sich der Sohlenvorteil auswirke.
Der Literaturfachmann neben mir ruft: „Geil! Heute ist wieder Heiner (,Heini‘) Müller als Experte geladen.“ Ich warte treu und doof auf die poetische Exegese des Endspiels, bis mir auffällt, daß irgend was nicht stimmt. Richtig, der Mann hieß ja Gerd! Falsch, der Mann heißt Hansi. Falls man wirklich so heißen kann, ohne ein Kanarienvogel zu werden. Mehr muß man dazu auch nicht wissen, sagt mein Mann, der Experte für meinen Erkenntnishorizont.
Gerd „Rubi“ Rubenbauer ist Experte für Familiengeschichten. Unglaublicherweise hat Jordi „Jordi“ Cruyff einen Vater – man kann das gar nicht oft genug wiederholen – und enge menschliche Beziehungen. Wie vielen zufälligen Vereinskameraden er schon intensive Freundschaften unterstellt hat, die dann angeblich in äußerst tragischer Manier hart auf die Probe gestellt werden, weil man sich in gegnerischen Teams gegenübersteht und womöglich beim leidigen Elfmeterschießen aneinander vorbei gehen muß, möchte ich lieber nicht wissen.
Ich will auch einmal Expertin für etwas sein, und das wird mir an dieser Stelle glücken, allerdings nur, weil ich einen anderen Experten zu Rate gezogen habe. Die deutsche („Michel“) Mannschaft, die mich („Icke“) besonders interessiert, hat bessere Chancen als die restlichen kickenden Rotzlöffel Europas, weil ihre Spielernamen und Nummern in der hochschönen Schrift Corporate A gesetzt beziehungsweise aufs Trikot genäht wurden, die 1991 von Kurt Weidemann eigens für Mercedes „Auto“ Benz entworfen, wenn nicht gar entwickelt wurde. Na? Das hat noch niemand gesagt, obwohl alle Zeit der Welt vorhanden war.
Die konkurrierenden („Versager“) Mannschaften verfügen über keine seriösen Schriften, es handelt sich in Resteuropa um sogenannte hergelaufene Hemdenschriften. Tut mir leid für euch, Jungs, wir sind zwar bestimmt auch irgendwie miteinander verwandt oder befreundet, aber mit den Schriften verliert ihr trotzdem.
Wie die würdelosen Kragenschriften am Hals von Kalli „Karlheinz“ Feldkamp zwanglos beweisen, gibt es auch Expertenwerbung. Warum setzt der sich nicht gleich eine Margarineschachtel auf den Kopf und balanciert eine Bierdose auf der Nase? Jetzt läuft mir aber die Zeit davon. Falls mir jemand sagen kann, ob das Garn, aus dem die Tornetze geknüpft wurden, rechts- oder linksdrehend ist, und wessen Bruder es tragischerweise überhaupt hergestellt hat, darf er von mir aus im Fernsehen auftreten. Susanne Fischer
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen