: Wembley auf dem Prager Altstädter Ring
■ Ein kleines Brevier tschechischer Fußballkneipen: Die Einheimischen fieberten und litten vor der zu kleinen Großleinwand oder im Roxy-Club, die Deutschen blieben lieber im Hotel
Prag (taz) – Das Gute am Kapitalismus ist, daß er Vielfalt ermöglicht. Selbst wenn alle das gleiche tun, Fußballgucken zum Beispiel, tun sie doch etwas Unterschiedliches. Ja, die Zeiten, als alle in die Kneipe um die Ecke gingen, weil auch die Kneipe an der nächsten Ecke nichts anderes zu bieten hatte, sind lange vorbei. Heute hat jeder sein individuelles Ziel, die Kneipe, die zu ihm paßt. Und in Fußballzeiten wie diesen gilt: Zeige mir, wo du Fußball schaust, und ich sage dir, wer du bist. Nur die Niederlage macht alle gleich.
Da ist erstens die schon erwähnte Kneipe um die Ecke, die es natürlich immer noch gibt, die aber vor allem in den historischen Stadtzentren von Pizzerien und – wie könnte es anders sein – McDonald's verdrängt wird. Dort, wo sie überlebt hat, findet sie sich meist in romanischen und romantischen Räumlichkeiten, der Prager Henker und all diejenigen, die später aus dem Fenster gestürzt wurden, tranken einst hier. Wer seine Nationalflagge an der Garderobe abgibt, erhält einen Bierdeckel, auf dem der Pilskonsum genauestens registriert wird. Da auch die Kellner keine Fahnen tragen dürfen, haben sie sich blaue, weiße und rote Striche auf die Backen gemalt. Der Fernseher steht auf einem Podest und die Gäste – Ehepaare, die ihre Kinder bei der Großmutter zurückgelassen haben – zeichnen sich dadurch aus, daß sie fachkundige Kommentare wie etwa „schön“ von sich geben. Daß die Deutschen bei der UEFA eine Erweiterung ihres Teams durchsetzten, ist zwar für die Zeitungen, nicht aber für die hiesigen Fans ein Thema. Überhaupt hat man für das Spiel der Deutschen wenig Interesse, ganz so, als erwarte man gar nicht, daß die den Ball ins Netz bringen. Da ist dann auch mal Zeit, sich über den Urlaub in Kroatien zu unterhalten.
Die zweite Kneipe ist eigentlich gar keine. Es gibt sie in großen Städten auf großen Plätzen, und die bekannteste wurde auf dem Prager Altstädter Ring eingerichtet. 30.000 verwandelten den Platz in ein zweites Wembley-Stadion, nur daß die meisten von ihnen vom Fußball wenig sahen: die Großleinwand zu klein, die Nacht zu hell, die Fahnen zu viele. Daß Kuntz beim entscheidenden Tor der Deutschen im Abseits stand? Keiner hat's gesehen und so kann sich auch keiner ärgern. Besonders wenig sahen die Frauen. Zum einen ist die Tschechin nicht immer die Größte, zum anderen war sie meist mit dem Getränkenachschub für die Freunde ihres Freundes beschäftigt. Viele waren angesichts dieser Aussicht gleich zu Hause geblieben.
Die dritte Kneipe ist die multikulturelle. Hier spricht selbst der tschechische Fan englisch. Nicht weil ihn der amerikanische Kellner sonst nicht verstehen würde, sondern weil sich „Fucking Germans“ einfach weltgewandter anhört als „Du deutscher Pisser“ (tschechisches Schimpfwort). Außerdem würden die wenigen deutschen Gäste den Fan sonst auch kaum verstehen. Sich anbahnende Schlägereien werden vom Barkeeper professionell verhindert. Der Fernseher steht hier in der hintersten Ecke der Kneipe, eine Tradition, die sich aus jenen Tagen erhalten hat, als man das nationalistische Fußballtreiben in England mit Verachtung strafte. Doch inzwischen schreit niemand so schrill für Poborsky wie die Engländerinnen. Die „Klinsi, Klinsi“-Rufer haben da keine Chance.
Überhaupt die Deutschen. Wo sind sie, die Zehntausende, die ansonsten den Prager Altstadtwirten ihr Auskommen sichern? Angst habe es keine, teilt ein älteres Ehepaar dem tschechischen Reporter mit, als nach dem Führungstor der Tschechen die Sektkorken knallen. Andere deutsche Kommentare sucht der Reporter vergebens. Wo sind sie, die Deutschen?
In spontan entstandenen Kneipen. In den Lobbies der Hotels, in deren Zimmern es keinen Fernseher gibt. In den Zimmern der Hotels, in denen es Fernseher gibt. Bedient von Kellnern ohne blauweißrote Streifen. Kleine verschworene Gemeinschaften im momentan feindlichen Ausland. Einige von ihnen werden am nächsten Morgen die Scheiben ihrer Autos eingeschlagen finden. Einige von ihnen treffen aber auch tschechische Helfer, die sie zur Polizei begleiten und dort übersetzen.
Auch die Tschechen sind an diesem Abend am liebsten unter sich. Selbst die junge tschechische Intelligenzia versetzt die ausländischen Freunde. Ihre Fußballkneipe ist der Roxy-Club, auf der Bühne eine Leinwand, die nicht hinter der des Altstädter Rings zurücksteht, in der Luft Haschischschwaden und Euphorie. Als Oliver Bierhoff das „Golden Goal“ schießt, das im Tschechischen „Plötzlicher Tod“ heißt, stoppt das Leben für eine ganze Minute. Es ist jene Zeit, in der man die vielzitierte Stecknadel fallen hört, und erst als ein existentialistisch gekleideter Mittdreißiger auf einen Tisch klettert und sein „Jungs, wir danken euch“ ausstößt, belebt sich die Szene wieder. „Wir sind Zweite! Immerhin etwas!“ Sabine Herre
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