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Die Schlacht entscheiden Kleingärtner

■ Wenn heute viele Russen ihre Datscha dem Wahllokal vorziehen, könnte es für Boris Jelzin bei der Stichwahl eng werden

Moskau (taz) – „Die Versuchung ist groß. Sommer, gutes Wetter, Gott schenkte einen freien Tag – der Garten will gesprengt werden, versteh' ich bestens“, mahnte Alexander Lebed das ermüdete Wahlvolk. „Aber auf jeden Fall wählen, um nicht anschließend Schützengräben im Garten buddeln zu müssen.“

Der leidenschaftliche Schrebergärtner ist Boris Jelzins hinterhältigster Gegner und wahrscheinlich jene „Geheimwaffe“, die der kommunistische Präsidentschaftskandidat Gennadi Sjuganow drohte, im letzten Moment zu zünden. Niedrige Wahlbeteiligung könnte den Sieg Jelzins noch gefährden. Liegt sie an der Sechzig-Prozent- Marke, liefern sich die Prätendenten ein spannendes Finish. Alles, was die 60 Prozent übersteigt, rechnen Analytiker dem amtierenden Präsidenten gut. Denn die organisierten Kommunisten mobilisieren ihre Wähler bis auf den letzten Mann.

Im ersten Wahlgang hatte sich erneut bestätigt, daß Altersschwache und Invaliden über mehr als eine Stimme verfügen. Dort wo Wahlhelfer mit Urnen zu den Kranken unterwegs waren, genossen die Kommunisten nicht nur überdurchschnittlichen Zuspruch, in den Urnen befanden sich mehr Stimmzettel als Wähler auf der Liste. Die Frist der öffentlichen Wahlpropaganda ist abgelaufen, doch bislang zündete nichts. Ganz zu schweigen von den beiden Kandidaten. Im Gegenteil: Präsident Jelzin ließ sich vor der Entscheidungsschlacht krank schreiben, verlegte alle Termine und gab Spekulationen Auftrieb, sein Gesundheitszustand sei bedenklich. Sjuganow hatte eigentlich schon aufgegeben, blaß und erschlafft schien er nur dem Dolchstoß seiner Genossen zu harren. Erst die Kunde von Boris Nikolajewitschs Unwohlsein hauchte ihm wieder Lebensgeister ein. Plötzlich erschien er in Nachtlokalen, tanzte und spielte im Kreise bebauchter Herren einen kraftvollen Volley. Doch für den Befreiungsschlag ist es bereits zu spät. Die Schlacht entscheidet die fünfte Kolonne der Kleingärtner. Obwohl der rückenleidende Jelzin denselben nicht mehr krumm machen kann, hüpft er immer noch graziöser als sein dreizehn Jahre jüngerer Widersacher. Auffallend: Beide versuchten einander zu kopieren, während sie sich bemühten, die Ähnlichkeiten dem Wähler nicht zu enthüllen. Beide bitten die Bürger, dem Zwist zwischen „Rot und Weiß“ ein Ende zu setzen, während sie noch vor wenigen Tagen Wähler durch die drohende Gefahr eines Bürgerkrieges an sich zu binden hofften. Nun ist die Zeit der Harmonie angebrochen.

Sjuganow empfahl sich als moderater, um Ausgleich bedachter Politiker. Seine Koalitionsregierung sieht auch Mitwirkende aus dem liberalen Lager vor, die das Angebot zurückwiesen. In der brüchigen Koalition der linken Splitterparteien sorgte die Kabinettsliste indes für gehörigen Aufruhr. Schließlich wollten alle für Gefolgstreue belohnt werden, gingen aber leer aus. Die Ultraradikalen des „arbeitenden Rußlands“ um Viktor Anpilow, die bei den Parlamentswahlen vier Prozent erhielten, riefen unlängst zum Boykott Sjuganows auf. Die Partei setzt alles dran, um den Bruch wenigstens bis zum Wahltag zu vertuschen. Das versöhnliche und maßvolle Auftreten des Frontrunners hat denn auch eher etwas mit dem Tag danach zu tun. Er hofft auf die rettende Hand des Zaren Boris, um ihn vor den Meuchlern aus der eigenen Partei rechtzeitig ins Kabinett zu hieven. Jelzins neue rechte Hand, Alexander Lebed, war der einzige unermüdliche Wahlkämpfer. Jeden Tag gab er Interviews, schockierte die einen und belustigte die anderen. Ihn drängte es in den ersten Tagen im Umkreis der Macht, seine Sicht der Dinge kundzutun. Der Law- and- order-Prophet gab Kostproben einer xenophoben Weltanschauung, nicht frei von repressiven Elementen und dem Glauben an seine Allmacht. Schon präsentierte er sich als zukünftiger Vizepräsident. Die Verfassung sieht dieses Amt nicht mehr vor. Weder Präsident noch Duma dürften Lebed durch eine Verfassungsänderung entgegenkommen. Zwei Wochen reichten anscheinend, um dem machtduseligen General wieder Bodenkontakt zu verschaffen. Er dementierte, vom Vizepräsidenten träumt er höchstens noch. Nun besinnt er sich, worauf er sich zweifelsohne versteht: Ausmisten und die Armee reformieren.

Auch er soll Jelzin zu einer Koalitionsregierung geraten haben, doch noch sträubt sich der Chef, Kommunisten in die Regierung aufzunehmen. Lebed hatte ihnen die Ressorts Soziales und Arbeit zugedacht. Der Kremlchef sieht es anders: Ein derartiger Vorschlag treibt ihn eher zum nächsten Herzinfarkt. Unterdessen kündigte das staatliche Fernsehen für heute drei Teile einer Seifenoper an. Die Wähler sollten bitte in der Stadt bleiben. Früher ließen die Kommunisten den Himmel über Moskau sonnig bomben, wenn die Elite tagte. Ist das die „Geheimwaffe“? Klaus-Helge Donath

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