: 35 Grad und überall nur Schatten
Das Dorf Boligee ist klein – so klein, daß das Abfackeln dreier Kirchen eigentlich jemandem hätte auffallen müssen. Aber wo Schwarz und Weiß sich gezielt meiden, bleibt vieles unsichtbar ■ Aus Boligee (Alabama) Andrea Böhm
Eines steht fest: In Zukunft muß niemand mehr zur Taufe in den „Kuhteich“ steigen. Stolz zeigt Earl Daniels auf das whirlpoolgroße Becken, das gleich hinter der Kanzel und Bühne für den Kirchenchor in den Boden eingelassen worden ist. Die Ziegel sind unverputzt, aus den Kirchenwänden quillt Isolierwolle, von den Decken hängen Kabel, die Treppe zum Kircheneingang besteht aus ein paar provisorisch aufgeschichteten Ziegelsteinen und das zukünftige Büro des Pastors ist nur ein nackter Holzquader. Doch Daniels schreitet durch die Baustelle der „Little Zion Missionary Baptist Church“, als befände er sich in der Sixtinischen Kapelle. Sein dunkelblonder Pferdeschwanz wippt hin und her, wenn er gestenreich die Ausstattung der künftigen Damentoilette und des Seminarraums für den Bibelunterricht erklärt. „Ist es nicht wunderbar?“
Ist es. Vor allem, wenn man bedenkt, daß vor wenigen Wochen auf diesem kleinen Hügel an einer Schotterstraße in Greene County (Alabama), wo sich nicht Fuchs und Hase, sondern Schildkröte und Gürteltier gute Nacht sagen, nur eine verkohlte Ruine stand. Earl Daniels, 35jähriger Labortechniker aus dem Nachbarstaat Georgia, hatte in der Zeitung von den Brandanschlägen auf Kirchen aus dem 268-Seelen-Dorf Boligee gelesen. Dort wurden im Dezember 1995 und im Januar 1996 drei Kirchen schwarzer Gemeinden in Brand gesteckt: „Little Zion“, „Mount Zion“ und „Mount Zoar“. Die örtliche und zeitliche Nähe dieser Anschläge ließ Kirchenfunktionäre und schwarze Politiker erstmals argwöhnen, daß hinter der Serie von Brandanschlägen, wenn schon nicht diesselben Täter, so doch dasselbe Motiv stecken könnte: Rassismus.
Presseberichte lösten eine Welle von Hilfsangeboten aus dem ganzen Land aus. Mitte Juni schickte Earl Daniels, alleinerziehender Vater, seine Tochter in ein Pfadfinder-Sommerlager und verbringt nun in Greene County seinen Jahresurlaub. Zusammen mit Angehörigen eines „Workcamps“ der Quäker, Teenagern mehrerer Highschools in Washington, einem Computerfachmann aus Virginia, einem Elektriker aus dem nahegelegenen Tuscaloosa sowie einigen schwarzen Bauarbeitern aus Greene County hämmert, sägt und wuchtet er Zementsäcke bei 35 Grad und tropischer Luftfeuchtigkeit inmitten wohlgenährter Mücken und Pferdebremsen. Laut Bauplan wird Pastor W. D. Lewis, der mit 92 Jahren, Gehstock und Baseballmütze die wundersame Wiederauferstehung seiner Kirche täglich begutachtet, Anfang September den ersten Gottesdienst in der neuen, schöneren und größeren „Little Zion Missionary Baptist Church“ abhalten.
Angesichts dieser Perspektive stört es den Pastor kaum noch, daß die Polizei bis heute keine Hinweise auf den oder die Brandstifter hat. In seiner Verzweiflung über die Zerstörung der alten Kirche habe er sich ganz und gar Gott anvertraut, sagt er mit dem schleppend singendem Akzent schwarzer Südstaatler. „Und Gott hat uns eine neue Kirche gegeben.“ Statt Schuld zuzuweisen, was den Herrn am Ende noch verärgern könnte, betet er nun lieber für die Täter. Je weniger er über deren Hautfarbe weiß, desto besser.
Auch Jonie Jackson, die 55jährige Bibellehrerin der „Little Zion“-Kirche, die mit acht Jahren von Pastor Lewis zwecks Taufe in den erwähnten „Kuhteich“ getunkt wurde, spricht ungern über Rassismus. „Hier haben sich Weiße und Schwarze immer ganz gut vertragen“, sagt sie, deren Vorfahren als Sklaven diese Kirche aufgebaut hatten.
Das „wunderschöne Bild“: Schwarz betet mit Weiß
Wie jeden Mittag hat Jonie ihren imposanten Körper auf die Ladefläche eines Kleinlasters gewuchtet und blickt zufrieden auf die freiwilligen Helfer herab, die sich über das Essen aus ihrer Küche hermachen: Bohnen, Krautsalat, fritiertes Hähnchen, Maisbrot, Eistee. Noch vor dem ersten Bissen schließen sich Schwarze und Weiße im Kreis zum Gebet. Der Pastor segnet die Mahlzeit, eine junge Weiße stimmt „Amazing Grace“ an. Jonie Jackson wischt sich mit einem Handtuch den Schweiß von der Stirn. „Ist es nicht ein wunderschönes Bild?“
Ist es. Vorausgesetzt, man schaut nicht hinter die Kulissen. Das Dorf Boligee besteht aus einem verfallenen Café, Tom Hytton's Lebensmittelladen, einer Sozialbausiedlung und einer ausgestorbenen Ladenzeile, deren Fenster längst vernagelt oder zerbrochen sind. Am Rande der Hauptstraße steht inmitten wuchernden Unkrauts ein verrosteter Feuerwehrwagen, dessen Karosserie allerlei Fauna und Flora beherbergt. Feuerwehrchef Buddie Lavender, ein rüstiger Endsechziger mit ungezähmtem Bart, lückenreichem Gebiß und einer Vorliebe für Camouflage-Hosen und Jagdausrüstung, stapelt seine Gewehre im Kleiderschrank – über zehn Stück, „eins für die Truthahnjagd, eins für die Hirschjagd, eins für die Eichhörnchenjagd, eins um Wachteln zu schießen ...“
Dazu kommt „die 45er Magnum, wenn ich im Dienst bin und die Glauck-Pistole, wenn ich nicht im Dienst bin“. Denn Buddie Lavender ist der Einfachheit halber auch Polizeichef und Bürgermeister. Seit ungefähr zwanzig Jahren. Genau erinnert er sich nicht mehr. Irgendwann im August stehen wieder Wahlen an. Das genaue Datum ist ihm entfallen. „Gibt eh keinen Gegenkandidaten.“
Daß ein einziger Weißer in einem Dorf mit über 70 Prozent schwarzer Bevölkerung sämtliche relevanten Posten besetzt, hält Lavender für normal. „Ich bin erstens ein ehrlicher Kerl und zweitens farbenblind.“ Letzteres wiederum hält ihn nicht davon ab, von der Sozialbausiedlung als „Brutstätte für schwarze Babies“ zu sprechen und sich ausführlich über das verrottete, weil von „unfähigen Schwarzen“ kontrollierte öffentliche Schulsystem zu beklagen.
Nichts stört Lavender mehr als der Presserummel um die Brandanschläge auf die Kirchen und die Spekulationen um Aktivitäten des Ku-Klux-Klan. Natürlich hat es den Klan in Greene County gegeben, auch in Boligee. Aber das ist dreißig, vierzig Jahre her, sagt Lavender, und im übrigen sei das „ganze Bürgerrechtsding“ hier recht ruhig über die Bühne gegangen. Keine Polizeihunde, Knüppeleinsätze oder Feuerbomben wie anderswo in Alabama.
Die „goldene Ära“: Sklaverei auf Plantagen
Dreißig Jahre danach wirbt hier der örtliche Fremdenverkehrsverein mit den restaurierten Villen der „goldenen Ära“, als „Plantagenbesitzer zwischen 1840 und 1860 wohlhabende, kultivierte und elegante Gemeinden schufen“. Daß sie das auf dem Rücken schwarzer Sklaven taten, bleibt unerwähnt. Und die Schulen von Greene County sind heute noch so segregiert wie in den fünfziger Jahren, weil die Nachfahren der Plantagenbesitzer ihre Kinder auf Privatschulen schicken. Ebenso das Dorf: Die Weißen sitzen im „Café Boligee“ zusammen, einer stickigen Bretterbude mit verblichener Coca-Cola-Reklame; die Schwarzen treffen sich vor dem einzigen Geschäft im Dorf, „Hytton's Grocery Store“, einer düsteren Kaufhalle, in der sie anschreiben lassen können.
Lavenders Erzfeind heißt Spiver Gordon. Der schwarze Stadtrat und Mitglied der „Southern Christian Leadership Conference“ (SCLC) war einer der ersten, der vor laufender Kamera eloquent einen neuen Ku-Klux-Klan brandschatzend durch die Dörfer reiten sahen. Der 1957 von Martin Luther King gegründete SCLC macht für die Brandanschläge das „zunehmend rassistische Klima“ im Land mitverantwortlich. Doch es ist nicht der Streit um die Motive der Täter, der in Greene County Schwarze und Weiße weiter auseinandertreibt, sondern der Geldsegen für den Wiederaufbau.
Lavender eröffnete als erster ein Konto, um Dollars zu sammeln und zusammen mit der gemischten Bürgerorganisation „Citizens For A Better Greene County“ zu verwalten. Schließlich waren die Betroffenen „seine“ Schwarzen. Die „Southern Baptist Convention“, ein erzkonservativer Zusammenschluß von Baptisten aus den Südstaaten, wollte die Kirchen mit eigenen Arbeitskräften und Zulieferern wiederaufbauen.
Gordon beschuldigte daraufhin den Bürgermeister der Veruntreuung und mobilisierte die Pastoren. Schwarze, die mit Lavender kooperierten, sahen sich in anonymen Flugblättern als „Onkel Tom“ denunziert. Der Vorwurf der Veruntreuung erwies sich als pure Unterstellung, doch Lavender rückte das Geld an „diesen bezahlten Agitator“ heraus. Auch das Angebot der „Southern Baptist Convention“ wurde abgelehnt. Nun sitzen die Weißen mittags im „Café Boligee“ mit seinen zerkratzten Resopaltischen und aufgerissenen Polsterstühlen, schimpfen auf die Presse, weil die auf das „Theater der Schwarzen“ reinfalle, und fluchen auf Gordon, der sich gerade einen neuen Cadillac für 49.000 Dollar gekauft habe.
In „Hytton's Grocery Store“ dagegen hängt immer noch das Schild des FBI an der Kasse, auf dem 30.000 Dollar für Hinweise zur Ergreifung der Brandstifter ausgeschrieben sind. Niemand hat sich gemeldet – und nach Ansicht von Tom Hytton, dem weißen Ladenbesitzer, wird sich auch niemand melden. „Wahrscheinlich waren es ein paar von diesen Cracksüchtigen“, sagt er mit einer unbestimmten Kopfbewegung in Richtung mehrerer schwarzer Männer, die vor seinem Laden herumstehen. Gerade sind ja in North Carolina zwei schwarze Handwerker wegen Brandstiftung in einer Kirche, in der sie Reparaturarbeiten ausführen sollten, festgenommen worden. Das machte Schlagzeilen.
Pünktlich zur Mittagspause taucht auf der Baustelle der „Little Zion Missionary Baptist Church“ Henry Carter auf, der Pastor der benachbarten „St. Matthews Church“, wo die obdachlose Gemeinde von „Little Zion“ derzeit ihre Gottesdienste abhält. Carter hat in der Post einen anonymen Brief gefunden. „Lieber Nigger“, steht da, „ich bete mit Millionen von Amerikanern, daß jede schwarze Kirche in Flammen aufgehen möge. Crack, Aids und Bastarde – die Nigger zerstören Amerika.“ Immerhin, tröstet sich Jonie Jackson und zeigt auf den Absendestempel: „Der Dreck kommt aus Georgia.“ Nicht aus Alabama. Nicht aus Greene County. Oder gar aus Boligee.
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