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Die Toten müssen identifiziert werden

Mit größter Sorgfalt werden die Massengräber um Srebrenica lokalisiert und ausgehoben. Den Haager Tribunal sammelt damit Beweise gegen Serbenführer Karadžić und General Mladić  ■ Aus Cerska Erich Rathfelder

Die ungeteerte, einspurige Straße, die durch ein kleines Tal nahe dem Ort Cerska in Ostbosnien führt, wird an dieser Stelle etwas breiter. Ein paar Meter unterhalb fließt ein kleiner Bach. Der Ort könnte ein Exekutionsplatz gewesen sein. So jedenfalls lauten die ersten Vermutungen aus dem Troß der Begleiter, die mit den Experten des Den Haager Kriegsverbrechertribunals hierher gekommen sind. Am Straßenrand, so die Vorstellung, könnten die Gefangenen gestanden haben, aufgereiht mit dem Rücken zum Bach hin. Die Körper könnten auf den Talboden geworfen und später mit Erde überdeckt worden sein.

„Halt“, sagt William Haglund, „keine Spekulationen bitte.“ Der Anthropologe aus Seattle in den USA will den Ort gründlich und wissenschaftlich untersuchen. „Bisher wissen wir weder wie viele Opfer hier begraben sind, noch um wen es sich handelt, noch zu welcher Zeit sie getötet wurden.“ Der zierliche Mann weist alle spekulativen Fragen zurück. „Wir beginnen erst mit der Arbeit.“

Ein norwegisches Expertenteam hatte schon am Sonntag den Ort nach Minen abgesucht, aber keine gefunden. Grünes Licht für die anderen Experten. Eine Gruppe der aus Boston stammenden Gruppe „Ärzte für Menschenrechte“ fotografierte und vermaß die Stätte. Erst jetzt können die Ausgrabungen beginnen.

„Die Grabungen sollen so vorgenommen werden, daß alle Informationen über die Leichen gesichert werden. Jede Leiche wird in ihrer jetzigen Lage fotografiert und untersucht.“ Für William Haglund ist das oberste Ziel, die Identität der Getöteten festzustellen. Die Ausgrabungen würden Informationen über die Art des Todes, den Todeszeitpunkt und die Umstände geben.

In einem zweiten Schritt soll die Identität der Opfer festgestellt werden. Eine sogenannte „ante mortem data base“ wird vom Roten Kreuz schon jetzt aufgrund der Aussagen der Angehörigen von Vermißten erstellt. Diese Angaben werden dann nach dem Plan der Experten anhand von Computern mit den medizinischen Untersuchungen verglichen. Die ganze Prozedur wird vorausichtlich mehrere Monate in Anspruch nehmen, schätzt William Haglund.

Kaum hundert Meter von dem Ort des Grauens entfernt steht eine Hausruine. Das Haus muß damals bei der Offensive der serbischen Truppen im April 1993, als der Belagerungsring um Srebrenica enger gezogen wurde, zerstört worden sein. Vor dem Haus ist noch ein Brunnen erhalten, Mustafić, Ajić, 1983, ist auf der Einfassung zu lesen. Auch die Nachbarhäuser, die von Ibreizlatke Hasanović und von Aiha Mehmedović, wurden damals gesprengt. Ein Rundblick genügt. Alle Häuser im Tal und auf den Berghängen sind zerstört. Die Gärten und Felder zerfallen und von Unkraut überwuchert. Niemand lebt hier mehr in dieser Gegend. Könnte das Grab also nicht auch aus dem April 1993 stammen?

Das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag hat den Ort ausgewählt, um Beweise gegen zwei der Hauptangeklagten zu sammeln, gegen Radovan Karadžić und Ratko Mladić. Es ist einer der Orte, die von Satelliten als Massengräber ausgemacht worden sind. Und so ist es wahrscheinlich, daß hier flüchtende Männer aus Srebrenica begraben wurden, die fast vor genau einem Jahr, am 13. Juli 1995, in einer langen Kolonne von 15.000 Menschen von Srebrenica aus über die Berge kommend hier an Cerska und Nova Kasaba vorbeigezogen sind. Hier wurden Teile des Zuges bei serbischen Artillerieangriffen abgeschnitten und von Serben festgesetzt. Noch sind die Schicksale von 8.000 Menschen nicht geklärt, die sich damals in Srebrenica auf den Weg nach Tuzla in die Freiheit machten.

„Wir sehen hier, was der Begriff ethnische Säuberungen bedeutet.“ John Washington ist amerikanischer Soldat und sitzt hinter einem Maschinengewehr, das auf einem der großen Jeep geschraubt ist. Er soll die Ausgrabungen bewachen. Und verrichtet angesichts der sommerlichen Hitze — angetan mit Helm und schwerer Bleiweste — zwar schwitzend, aber doch willig seinen Dienst. Denn dazu sei er ja hergekommen, sagt er. In der Nähe ist ein amerikanischer Panzer aufgefahren. „Bisher haben uns die serbischen Behörden nicht behindert“, erklärt ein Offizier. „Sie waren in den letzten Tagen sogar kooperationsbereit.“

Immerhin aber habe General Mladić am Samstag acht Panzer von der Basis in Han Pijesak, einer 20 Kilometer entfernten Stadt, in Bewegung gesetzt. Es seien harte Verhandlungen und US-amerikanische Soldaten nötig gewesen, um die serbischen Soldaten zur Rückkehr zu bewegen. „Den Serben gefällt das Ganze nicht“, gibt der Offizier an. Und auch die dreißig einheimischen Arbeiter, die bei den Ausgrabungen helfen sollen, schauen mißmutig drein. „Wer weiß, ob nicht der eine oder andere genau weiß, wer hier begraben ist?“ flüstert ein Besucher.

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