: Der Sturm vor der Parade
Die Unruhen in Nordirland gehen weiter. Morgen wollen 100.000 Protestanten durch Portadown marschieren ■ Von Ralf Sotscheck
Denise Dorian feierte gerade ihren Geburtstag zu Hause in Nord-Belfast, als ein Ziegelstein durch das Wohnzimmerfenster flog. Vor dem Haus marschierten Nachbarsfrauen auf und ab und sangen blutrünstige loyalistische Kampflieder. „Das waren unsere Nachbarn“, sagt Denise Dorian, „Leute, mit denen unsere Kinder gespielt haben. Und jetzt vertreiben sie uns aus unserem Haus.“ Auf die Hintertür hatte jemand eine Warnung gesprüht: „Taigs Out!“ ,Taigs‘ ist eine abfällige Bezeichnung für Katholiken.
Die Dorians waren nach dem IRA-Waffenstillstand vor knapp zwei Jahren in das konfessionell gemischte Viertel gezogen. Ihre Kinder sollten in einer Atmosphäre der Toleranz aufwachsen. Das ist nun vorbei, die Dorians packten vorgestern abend ein paar Sachen zusammen und zogen zu Verwandten in ein katholisches Viertel. Gestern früh war ihr Haus bis auf die Grundmauern niedergebrannt.
Die Vertreibungen katholischer Familien gingen gestern weiter, Paddy Ashdown von den Liberalen Demokraten in London sprach sogar von „ethnischen Säuberungen“. In Ballymena, dem Wahlkreis des Protestanten-Priesters Ian Paisley, wurde der etwa 70jährige katholische Pfarrer Frank Mullen in seinem Haus regelrecht belagert. Die Loyalisten warfen sämtliche Fensterscheiben ein und zündeten sein Auto an. Erst 24 Stunden später konnte er aus dem Haus fliehen. William Wright, Stadtrat der Ulster Unionist Party (UUP) und Mitglied des Orangeisten-Ordens, sagte, „die volle Verantwortung für den Angriff“ trage der Polizeichef von Portadown. Schließlich habe er die Straße für die orangeistische Parade gesperrt.
Dort ist die Situation unverändert. Etwa 3.000 Menschen hatten auf dem Friedhof der Kirche von Drumcree am Stadtrand von Portadown übernachtet, tagsüber schwoll die Zahl wieder auf mindestens 10.000 an. Der stellvertretende UUP-Vorsitzende John Taylor sagte, die Leute wollten nach dem Gottesdienst am Sonntag einfach nach Hause gehen, doch die Polizei habe ihnen den Weg versperrt. Aus gutem Grund: Der „Nachhauseweg“ des protestantischen Triumphzuges führt mitten durch ein katholisches Wohngebiet.
Taylor warnte, daß morgen zum Jahrestag der Schlacht am Boyne 1690, dem wichtigsten Feiertag im Kalender nordirischer Protestanten, mehr als 100.000 Menschen nach Drumcree kommen werden. „Die Paraden, die sonst überall im Land stattfinden, werden nach Drumcree verlegt“, sagte er. Die britische Regierung hat gestern tausend Soldaten nach Nordirland geschickt, insgesamt sind dort nun 18.500 Mann stationiert.
Auch in allen anderen nordirischen Städten setzten sich die Kämpfe gestern fort. Die meisten Hauptstraßen und Autobahnen waren durch Barrikaden gesperrt, Coleraine an der Nordküste war völlig von der Umwelt abgeschnitten, weil auf beiden Brücken in die Stadt Lastwagen brannten. Die meisten Geschäfte und Restaurants blieben geschlossen, der Busverkehr war eingestellt, und nach zahlreichen Bombenwarnungen fuhren nur noch wenige Züge. Wo keine Kämpfe stattfanden, waren die Straßen gespenstisch leer.
David Ervine von der Progressive Unionist Party, dem politischen Flügel der paramilitärischen Ulster Volunteer Force (UVF), sagte, die Unruhen seien „Ausdruck der protestantischen Frustrationen“, weil die IRA von britischen und irischen Politikern mit Samthandschuhen angefaßt werde. Inzwischen verdichten sich die Hinweise, daß ein UVF-Dissident mit dem Spitznamen „King Rat“ für den Mord an einem katholischen Taxifahrer am Sonntag verantwortlich ist. Es sei nicht auszuschließen, hieß es in UVF-Kreisen, daß „King Rat“ und seine Leute die Gewaltkampagne wieder beginnen wollen.
Die meisten Touristen haben Nordirland inzwischen fluchtartig verlassen. Hotels, Pensionen und Jugendherbergen aus allen Teilen der britischen Krisenprovinz meldeten Stornierungen, die ankommenden Flugzeuge und Fähren sind leer.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen