: Die Debatte über Goldhagen im Internet
Während in der amerikanischen Presse wissenschaftliche Laien nationale Stereotypen über den deutschen Antisemitismus verbreiten, läuft im Internet eine internationale Fachdiskussion über Goldhagens Buch. Verfolgt hat sie ■ Mitchell G. Ash
Das Buch Hitler's Willing Executioners des amerikanischen Wissenschaftlers Daniel Goldhagen hat bekanntlich einen Sturm von Begeisterung wie Entrüstung hervorgerufen. Die deutsche Fassung wird im August beim Siedler Verlag in Berlin unter dem Titel Hitlers willige Vollstrecker: Ganz normale Deutsche und der Holocaust erscheinen. Nehmen wir uns also dieses Sturmes an. Dabei soll nicht das Geschehen in den herkömmlichen Medien, sondern im Cyberspace im Mittelpunkt stehen.
Als Kontrast zur Internet-Diskussion dient die Rezeption des Buches in der mächtigsten amerikanischen Zeitung, der New York Times. Dort begann das mediale Ereignis schon vor Erscheinen des Buches. In einer Woche erschienen fünf Artikel, einer von Goldhagen selbst, ein Interview mit ihm, zwei Buchbesprechungen und eine Kolumne. Die sich schon anbahnende, kontroverse Aufnahme der Thesen Goldhagens in der Fachwelt verschwieg man dabei nicht. Dennoch wäre das Wort „wohlwollend“ für die Aufnahme Goldhagens in jenem Blatt eine maßlose Untertreibung.
Der Grundton glich reinster Freude; endlich, so schrieb A. M. Rosenthal, hat einer das Wesentliche erfaßt und durch eingehende Forschung untermauert. Nicht nur ein Häuflein SS-Schergen, sondern Hunderttausende „normale und willige Deutsche“, von „eliminatorischem Antisemitismus“ beseelt und von „fast allen der über 50 Millionen anderen Deutschen“ direkt unterstützt oder durch Wegsehen toleriert, hätten die Shoah ausgeführt. Dies weiterhin zu leugnen könne „nur eine Maske für Befürwortung oder Feigheit“ sein.
In dieses Deutungsmuster paßte der bald darauf folgende Bericht im selben Blatt über die deutschen Reaktionen auf die Thesen Goldhagens. Die von äußerster Schärfe geprägte Kritik deutscher Wissenschaftler als auch die – in der Tat unseriöse – Polemik des Spiegel- Redakteurs Augstein wurden unter derselben Rubrik zusammengefaßt: Die deutschen Intellektuellen setzen sich nur ungern und unter Schmerzen mit ihrer Vergangenheit auseinander.
Zur Begeisterung der New York Times für die Arbeit Goldhagens gab und gibt die Diskussion im Internet ein bezeichnendes Gegenbild ab. Entsprechend des dezentralen Charakters des neuen Mediums findet diese in mehreren Netzwerken statt. Ich beschränke mich hier auf „H-German“, eine von der amerikanischen Regierungsstiftung für geisteswissenschaftliche Forschung unterstützte Anlaufstelle für deutschlandbezogene Themen.
Besonders hilfreich war dabei die Moderation der Netzwerkleiter. Bald nach Einlauf der ersten spontanen Internet-Reaktionen schritten sie ein, um darum zu bitten, die Diskussion auf Beiträge zu beschränken, die auf einer Lektüre des Buches basierten. So konnten sie eine Ausuferung des Austausches in eine allgemeine Aussprache über die Shoah verhindern.
Interessanterweise fiel die Kritik der am H-German-Netzwerk Beteiligten an Goldhagen fast noch schärfer aus als die der deutschen Wissenschaftler in den Printmedien. Dabei spielte es keine Rolle, ob es sich um Deutsche oder Amerikaner, um Fachleute oder Laien handelte.
Zentraler Kritikpunkt vieler Beiträge war Goldhagens maßlose Vergröberung der Geschichte des Antisemitismus in Deutschland. So bemängelte der Historiker Richard S. Levy die axiomatische Wiederholung unbelegter Verallgemeinerungen, beispielsweise die Behauptung, daß „Konservative und völkische Nationalisten ... die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung“ bildeten.
Wichtiger noch, so Levy, unterscheidet Goldhagen nicht zwischen den in Deutschland zweifellos verbreiteten antisemitischen Einstellungen und der Bereitschaft zu gewalttätigen antisemitischen Handlungen. So macht Goldhagen aus dem Holocaust „etwas Monströs-Germanisches“, das „im Grunde unergründlich“ ist und nicht „ein Produkt menschlicher Entscheidungen“.
Viele Internet-Diskutanten unterstützten auch die ausführliche Rezension des Historikers Omar Bartow in der amerikanischen Zeitschrift The New Republic. Ein derart kompliziertes Ereignis wie die Shoah verlangt einen multikausalen Ansatz, eine Fixierung auf eine vage nationale Tradition hilft nicht weiter. Selbst Paul Lawrence Rose, ein Historiker, der den Antisemitismus in Deutschland in seinen eigenen Schriften als besonders „zerstörerisch“ charakterisiert hatte, meinte im Internet, daß der Weg vom deutschen Antisemitismus des 19. Jahrhunderts nach Auschwitz doch um einiges komplizierter war, als Goldhagen ihn beschreibt.
Das einzige, was zugunsten Goldhagens im Internet vernommen wurde, war, daß das von ihm zutage geförderte Material über das Verhalten der einfachen Täter in der Ordnungspolizei, bei den Todesmärschen und in den Zwangsarbeiterlagern durchaus wertvoll und die Diskussion insgesamt nützlich sei. Vor allem seien pragmatische Motive der Täter in der bisherigen Forschung zu sehr betont worden, obwohl viele Untersuchungen einen weitgehenden Konsens und keinen Protest gegen den Mord an den Juden festgestellt hätten. So wäre darauf zu hoffen, „daß wir die Fragen Goldhagens nicht abtun, auch wenn wir seine Antworten diskreditieren“.
Nach alledem ist deutlich, daß eine stereotype Nationalisierung dahingehend, daß „die Deutschen“ allen Thesen Goldhagens ablehnend gegenüberstünden, während „die Amerikaner“ einen anderen Standpunkt einnehmen würden – eine Deutung, die Andrei S. Markovitz in Heft 6/96 der Blätter für deutsche und internationale Politik und in einer verkürzten Fassung in der Frankfurter Rundschau zum besten gab –, unhaltbar ist. Die Fachdiskussion verläuft durchaus international, die Kritikpunkte sind auf beiden Seiten des Ozeans weitgehend dieselben: Ohne Vergleiche kann Einzigartiges nicht erklärt werden; und extreme Taten müssen nicht die Folgen extremer Ideologien sein.
Der wunde Punkt in der Internet-Diskussion lag an einer anderen Stelle, an der Kluft zwischen Fachleuten und Laien. So beschrieb ein amerikanischer Doktorand, wie sich seine nichtfachlichen Kollegen darüber wunderten, daß man an den Thesen Goldhagens etwas auszusetzen habe. Offensichtlich, so meinte er, sei die Fachdiskussion der letzten zwanzig Jahre, deren Befunde gegen eine solch einfache Kollektivschuldthese spricht, an der amerikanischen Leserschaft schlicht vorbeigegangen. Die bekanntesten Historiker der NS-Zeit seien, so der Doktorand, nun Daniel Goldhagen und der britische Rechtsaußen-Revisionist David Irving. Im Dialog mit einem größeren Publikum hätten die Fachhistoriker somit kläglich versagt.
Die ausführliche Wiedergabe einer Debatte zwischen Goldhagen und vier anderen Forschern im Holocaust-Museum in Washington, D.C. – ebenfalls im Internet – bestätigt diese Annahme auf beklemmende Weise. Dort zogen die Fachvertreter, darunter einer der bedeutendsten Historiker der Shoah, Yehudah Bauer aus Tel Aviv, und der Goldhagen-Rivale Christopher Browning, mit wissenschaftlichen Argumenten über Goldhagen her. Diese fundierte Fachkritik wurde von den Zuhörern mit eisernem Schweigen, die leidenschaftlichen Antworten Goldhagens hingegen mit brausendem Applaus begrüßt.
An dieser Stelle griff ich selber in die Internet-Diskussion ein, um die Sorge um eine Moralisierung der Diskussion zum Ausdruck zu bringen. Ginge es so weiter, so bestünde die Gefahr einer gesinnungsethischen Aufteilung der Standpunkte. Dann würde die Befürwortung der Thesen Goldhagens als politisch korrekter Standpunkt gelten, während alle Versuche zu differenzieren in eine Ecke mit Verharmlosern oder gar Leugnern der Shoah gestellt würden. Dies würde alle bisherigen Versuche zunichte machen, neben den spezifisch deutschen Wurzeln der Shoah auch ihrem Ursprung in bestimmten Entwicklungen der Moderne Rechnung zu tragen. Daraus wären schließlich nicht nur für die Deutschen, sondern für uns alle Folgerungen abzuleiten.
Kurz darauf warfen mir – natürlich auch im Internet – ein deutscher und ein amerikanischer Fachkollege gleichermaßen Kulturpessimismus vor. Der Deutsche meinte, die Sache habe sich schon jetzt, vor Erscheinen der deutschen Übersetzung des Goldhagen-Buches, aufgrund der vernichtenden Kritik der Fachleute erledigt. Der Amerikaner wies hingegen darauf hin, daß „wir“ Fachhistoriker ja den „besseren“, das heißt den wissenschaftlich überlegenen Standpunkt auf Jahre hinaus im Unterricht werden vertreten können. In einem hat der amerikanische Kollege sicher recht: Die Diskussion, auch die deutsche, ist nicht zu Ende, sie hat erst begonnen.
Insgesamt verlief die Auseinandersetzung im Internet mit unglaublicher Geschwindigkeit und mit internationaler Beteiligung. Auch informierte Nichtfachleute kamen zu Wort. Anders als bei Podiumsdiskussionen konnten die Gelehrten nicht von oben herab dozieren. Das sind alles große Vorteile gegenüber der Gemächlichkeit des normalen akademischen Rezensionsbetriebes und der Selbstgenügsamkeit vornehmer Blätter.
Die Wahrscheinlichkeit, daß die Diskussion der Thesen Goldhagens der Verfestigung schon vorhandener Stereotypen dienen wird, bleibt hoch. Die Tatsache, daß wenigstens im Internet die Urteile der amerikanischen und deutschen Beteiligten fast gleich ausfielen, gibt zur Hoffnung Anlaß, daß mit Hilfe der neuen Medien dieser Gefahr schneller und wirksamer begegnet werden kann. Leider ist es aber ebenso möglich, daß die Stereotypen nur schneller reproduziert und weitergegeben werden.
Daniel J. Goldhagen, „Hitlers's Willing Executioners“, A. Knopf Verlag, New York 1996, 624 Seiten, 30 Dollar
Mitchell G. Ash ist Professor für Wissenschaftsgeschichte und Neuere Deutsche Geschichte an der University of Iowa, USA. Zur Zeit arbeitet er als Gastwissenschaftler am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Veröffentlichungen unter anderem über die Wissenschaftsemigration aus NS-Deutschland nach 1933 und die Entnazifizierung von Wissenschaftlern und Wissenschaften nach 1945.
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