Erste Beschreibung des Staus

■ Sommerakademie: Literaturwissenschaftlerin Maria Leonarda Castello sprach über die Stadtwahrnehmung deutscher Dichter im 19. Jahrhundert

Das Thema „Großstadt“ scheint, so meint der Semi-Laie, vor allem für die literarische Moderne Anfang des 20. Jahrhunderts von Bedeutung gewesen zu sein – Döblins Berlin, Alexanderplatz, Joyces Ulysses oder T. S. Eliots The Waste Land sind schließlich die Paradebeispiele des Genres „Großstadtliteratur“. Wie aber steht es um „Stadt und Literatur im 19. Jahrhundert“ in Deutschland?

Maria Leonarda Castello, freie Dozentin für Literatur und „Bibliotherapeutin“ wollte literaturliebende Hamburger gestern, am vorletzten Abend der diesjährigen Sommerakademie, von diesem Wissensnotstand kurieren. Eine Stunde lang klärte sie unter dem sportfreundlichen Motto „Gleich wird es zum Faustkampf kommen“ über literarische Tendenzen großstädtischer Betrachtung im Deutschland des 19. und Ende des 18. Jahrhunderts auf.

Anhand diverser „Wegmarken“ stellte Castello jeweils einen Autor zitatweise vor und prüfte ihn auf seine Aussagen bezüglich des Themas Großstadt. Großstädtischen Weltekel wies sie in Ludwig Tiecks William Lovell (1795) nach, berlinerische Isolation offenbare sich für Theodor Fontanes Effi Briest (1894/95). Als geächtete Großstadt-Außenseiter erwiesen sich die Puppenspieler in Theodor Storms 1874 erschienenem Pole Poppenspäler („Wir haben kei' Heimat, kei' Freud, kei' Ehr'!“) und die „wahrscheinlich erste Beschreibung eines Verkehrsstaus“ böte Franz Grillparzer in seinem Roman Der arme Spielmann (1848).

E.T.A. Hoffmanns Der Ritter Gluck (1809) liefere bereits zu Beginn des vorigen Jahrhunderts „milieugetreue Schilderungen“ großstädtischer Menschenmassen, und Wilhelm Raabe decke in seiner Sperlingsgasse (1855) städtische Verelendung auf durch den „gefühlvollen Blick vom befriedeten Raum aus durchs Fenster“. Zahlreiche Aspekte der Beschreibung großstädtischen Lebens wurden so – schön systematisch – der Reihe nach abgehandelt und fachfraulich beleuchtet.

Die promovierte Germanistin und ehemalige Cambridge-Forschungsassistentin plazierte die Text-Häppchen akademisch korrekt in soziopolitische und historische Kontexte, bezog „Industrialisierung, Mechanisierung und Kapitalismus“ ebenso ein wie die allgemeine Entwicklung des Stadtlebens über die Jahrhunderte.

Heraus kam dabei ein interessanter und vielseitiger, aber auch recht braver Vortrag, der eine Vielzahl von Ansätzen umfaßte, jedoch – allein schon der knappen Vortragszeit wegen – notgedrungen an der Oberfläche weitergehender Einblicke verweilen mußte. Dafür erhielten an intensiverer Forschung Interessierte im Anschluß eine Literaturliste, inklusive ausgewählter Sekundärliteratur. Also auch ein veritabler Vorlesungsersatz für strebsame, semesterferiengeschädigte Studenten.

Auffallend waren in diesem Rahmen vor allem originelle Textpassagen, die den ordentlichen Rahmen mit (Großstadt-)Leben füllten. So freute sich das Publikum in indirekter Selbstbeobachtung geradezu diebisch über den hamburgspezifischen Ausschnitt aus Heinrich Heines Memoiren des Herrn Schnabelewopski (1834), der an den Hanseaten nicht nur „ausgefahrene Beißwerkzeuge“ beobachtete, sondern auch „nachlässig herabhängende, rote Wangen“.

Daß die Hamburger letztere rund eineinhalb Jahrhunderte später noch immer aufzuweisen haben, bewies gestern ein geschaffter Großstädter, der seine Gesichtszüge einnickenderweise hemmungslos entgleisen ließ.

Dabei war's so einschläfernd nun wirklich nicht.

Christian Schuldt