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Invasion der Medaillensnatcher

Verfrüht fühlt sich der deutsche Gewichtheber Ronny Weller als „stärkster Mann der Welt“: Der Russe Andrej Tschemerkin ist noch kräftiger  ■ Aus Atlanta Matti Lieske

Fanfaren und Pauken donnern los, und dann bebt die Bühne im Georgia World Congress Center unter den schweren Tritten von zwölf Elefanten, die sich notdürftig mit bunten Trainingsanzügen verkleidet haben. Vorhang auf für die zwölf stärksten Männer der Welt, die angetreten sind, ihren Allerstärksten zu ermitteln.

Knapp 70 Minuten später glaubt Ronny Weller, daß dies kein anderer als er selbst ist. Gerade hat er im letzten seiner drei Versuche 255 Kilogramm gen Hallendach gestreckt, damit einen neuen Weltrekord im Stoßen aufgestellt und die Führung übernommen. Während die allzeit stilsichere Musikabteilung wagnerianische Klänge durch die Halle brausen läßt, schleudert Weller, wie vor einigen Tagen Charles Barkley, triumphierend seine Schuhe ins Publikum. Nach ihm kommt nur noch der Russe Andrej Tschemerkin an die Reihe, und der müßte, um ihm das Gold noch abzujagen, das schier unglaubliche Gewicht von 260 Kilogramm stemmen, 6,5 Kilo über dem bisherigen Weltrekord – seinem eigenen im übrigen.

Tschemerkin könnte auch bloß 255 Kilo auflegen lassen, um dem Australier Stefan Botev, mit 123,96 Kilogramm der dürrste aller Teilnehmer, wenigstens die Silbermedaille abzujagen. Doch das kommt für den Weltmeister nicht in Frage. Er geht aufs Ganze, tritt an die Stange, führt sie ohne Schwierigkeiten an die Brust und drückt sie zum Entsetzen des Deutschen in die Höhe. Tschemerkin ist Olympiasieger, und Wellers Schuhe werden wohl in der Mülltonne landen.

Dabei war alles so schön nach Plan gelaufen. Nach der Vorstellung der versammelten Moppelbande hatte der Olympiasieger von 1980 und Silbermedaillengewinner von 1992, Leonid Taranenko, wegen einer Verletzung verzichtet, dann begann das Reißen, im Englischen sehr hübsch „Snatch“ genannt.

Mit schweren Schritten nahte der schwerste Mann dieser Olympischen Spiele, Mark Henry aus Texas, der 184,92 Kilogramm auf die Waage bringt. Kaum zu glauben, daß ein solch umfangreicher Mann nicht einmal in der Lage ist, armselige 182,5 Kilo zu snatchen. Doch Henry heizte zwar mit wilden Armbewegungen die Menge an, staubte die Bühne mächtig mit Magnesium ein, riß dann das Gewicht mit Macht in die Höhe, aber nur, um es in derselben Bewegung hinter sich niederzuwerfen. Abrupt erstarben die „USA, USA“- Rufe, und Henry wird nun Profi- Wrestler. „Ist auch besser so“, sagt Ronny Weller. Schon pirschte sich der nächste Heber ans Gerät. Igor Halilow aus Usbekistan brachte die Last über seinen Kopf, das war sein Fehler. Er konnte das Gewicht nicht stabilisieren und es fiel ihm aufs Haupt. „Unfortunately no lift“ verkündete der Sprecher, das war's für Halilow. Nun kam Manfred Nerlinger, reckte erst die Feldwebelbrust, dann das Gerät in die Höhe, doch bei 185 Kilo war auch für den dreifachen Medaillengewinner bei nunmehr vier Olympischen Spielen Schluß. Etwas besser machte es ein Ungar mit dem verpflichtenden Namen Tibor Stark. Entschlossen bewältigte er die 187,5 und fand vor dem Absetzen sogar noch Zeit, sich freundlich nickend nach allen Seiten zu bedanken, so als hätten die Zuschauer, und nicht er, die Bürde gelüpft. Dann setzte er endlich ab, breitete die Arme aus und ließ sich feiern wie Pavarotti nach dem hohen C.

Die stärksten Burschen stiegen erst ein, als alle anderen platt waren. Botev, Weller und Tschemerkin waren die besten Snatcher, und schon ging's ans „Clean and Jerk“, wesentlich profaner auch Stoßen genannt. Nerlinger gab noch mal alles und kam auf Rang sechs.

Nicht viel besser erging es dem Olympiasieger von 1988 und 1992, Aleksandr Kurlowitsch, der vor 18 Monaten beim Doping ertappt wurde. Mit „Take Five“ wurde er von der Musikabteilung begrüßt, leider hatte er nur drei, und nach dem dritten Versuch lag er 32,5 Kilo unter seinem Weltrekord im Zweikampf. Offenbar ist ihm die Entziehungskur nicht bekommen.

Der DJ setzte eindeutig auf Weller und feierte schon seinen vorletzten Versuch mit der „Ode an die Freude“. Als dann der Weltrekord-Jerk perfekt war, zweifelte niemand mehr am Sieg des 27jährigen, am allerwenigsten er selber. „Ich war sicher, daß Tschemerkin die 260 nicht schaffen würde.“ Als der Russe es doch tat, flossen bittere Tränen bei Weller, und die im Gewichtheben üblichen und nur zu häufig berechtigten Verdächtigungen machten die Runde. „Wer Ronny schlägt, muß gedopt sein“, hatte Cheftrainer Frank Mantek vor dem Wettkampf erklärt, und der Silbermedaillengewinner sagte lapidar: „Wer sich auskennt, weiß, was in diesem Sport läuft.“

Auf jeden Fall ist er nichts für Gesundheitsfanatiker. Inzwischen, so meldet das berüchtigte Computersystem Info 96, verletzte sich beim Stemmen der zweitausendste Gewichtheber der Olympiageschichte. Die Spiele der Antike nicht einmal mitgerechnet.

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