■ SURFBRETT
: Das Chaos und die Polizei

Ordnung ist nur ein Sonderfall der allgemeinen Unordnung. Auch das Internet ist ein Teil dieses Phänomens, hier läßt sich deshalb besonders viel darüber lernen. Am besten im Labor für angewandtes Chaos (http://www.galtech.edu/) in Atlanta. Zweifellos ist der Standort dieser wissenschaftlichen Einrichtung kein Zufall. Die Olympiastadt hat in den letzten Wochen hinlänglich bewiesen, daß sie auch mit sehr fortgeschrittenen Stadien chaotischer Prozesse fertig wird.

Die Polizei in Hannover tut sich da noch ein bißchen schwer. Immerhin hat sie sich in das chaotische Internet gewagt, um mit einer eigenen Website zu erklären, warum sie die Chaostage von Hannover verboten hat (http://www.hannover .de/polizei/). Der Erklärungsversuch ist kläglich gescheitert. Kein Chaos läßt sich verbieten, es schlägt augenblicklich zurück und chaotisiert das Verbot. Deswegen endet die Ansprache des Polizeipräsidenten Dieter Klosa in einem völlig unverständlichen Gestammel: „Geben wir Chaos und Gewalt keine Chance. Junge Leute müssen auch in Hannover eine Chance haben.“ Warum „auch in Hannover“? Haben sie in Bielefeld eine Chance? Und warum fehlt dem Substantiv „Chaos“ plötzlich der Artikel? Weil ihm die Chance fehlt?

Auch das Labor für angewandtes Chaos kann nicht immer erklären, wie es zu solchen verwirrten Endzuständen eines anfänglich durchaus geregelten Denkprozesses kommt. Aber die Wissenschaftler tasten sich vor in dieses Gebiet und dokumentieren ihre Zwischenergebnisse in sehr schönen, abstrakten Grafiken und einigen Videos, die online betrachtet werden können. Die Beispiele stammen überwiegend aus der Experimentalphysik. Schwingungen von festen Körpern zeigen überraschend chaotische Muster, überraschend deswegen, weil wir normalerweise annehmen, daß ihr Verhalten exakt vorausberechenbar ist. Das trifft nicht zu. Obwohl bei den Experimenten alle Randbedingungen feststehen, sind weder der Endzustand noch die einzelnen Phasen des Prozesses vorhersehbar. Unter dem Stichwort „Forschungsprojekte“ verweist eine endlos lange Liste von Links aber auch auf Publikationen der Medizin und Biologie. Auch unsere Körper und wahrscheinlich erst recht unsere Seelen sind Systeme des sogenannten determinierten Chaos. Die Nerven zum Beispiel scheinen fast nur chaotische Signale ans Gehirn zu übermitteln, das sie seinerseits keineswegs so geradlinig und eindimensional verarbeitet, wie sich das ein Polizeipräsident vorstellen mag. (niklaus@taz.de)