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Psychotherapie für Workaholics

Bildungsurlaub oder Sozialtraining statt Arbeitsamt und Tarifverträgen, und Unfähigkeit bei Managern steht unter Strafe: Ein Besuch in Utopia: Fünfter Teil der taz-Serie über die schöne neue Weltstadt Hamburg  ■ Von Stefanie Winter

urt F. schwitzt. Er ist nicht gut in Form. Squash? In seiner Position nur noch ab und an möglich, meist kommt wichtigeres dazwischen. Als er sich zum Ausgleich für einen Survival-Kurs anmeldete, rechnete er trotzdem nicht damit, daß es dermaßen hart werden würde. Diesmal hatte er sich gegen Free-Climbing auf Teneriffa entschieden und zum gleichen Preis (Kursgebühr 5800 Mark exklusive Ü/F) eine Woche „Aktive ambulante Altenpflege“ in Wilhelmsburg gebucht. Bereits am zweiten Tag spürt er seine Grenzen, weiß aber, daß er es trotzdem schaffen wird.

Was er nicht weiß: Zur gleichen Zeit entscheidet das Bundesarbeitsgericht zugunsten von 35.000 gekündigten Arbeitern und Angestellten, die gegen das Management zahlreicher Hamburger Betriebe wegen Unterschlagung und grober Unfähigkeit – seit drei Jahren endlich ein Straftatbestand – geklagt hatten. Das Gericht ordnet die Entlassung der verantwortlichen Geschäftsführer an (unter ihnen Kurt F.), läßt deren somit auf illegalem Wege erlangtes Privatvermögen konfiszieren und die beteiligten Firmeninhaber enteignen.

Selbstverständlich beläßt man ihnen das gesetzlich vorgeschriebene Existenzminimum von 1800 Mark monatlich für das kommende Vierteljahr (eventuell ausstehende Geldstrafen sind davon abzustottern) – allerdings nur, wenn sie bereit sind, zumutbare Arbeit jederzeit anzunehmen. In der Altenbetreuung zum Beispiel, wo sich Kurt F. bereits auskennt. Dort werden noch immer Leute gesucht, seit ein Rechtsanspruch auf eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung endlich für alle Pflegebedürftigen besteht. Weil einige des Lesens kundige Bundespolitiker irgendwann doch noch die ersten drei Grundgesetzartikel studiert hatten – und deren Beachtung erfolgreich einforderten.

Der große Rest des beschlagnahmten Geldes fließt von den Firmenkonten an die Hamburger Beschäftigungsbehörde (BeB), die 1998 gegründet wurde und vor 24 Monaten an die Stelle des Arbeitsamts getreten war. Seither kommt sie gut ohne Bundesmittel aus. Über ausreichend eigene Einnahmen verfügt die BeB durch die verstärkte Strafverfolgung von Unfähigkeitsdelikten.

Auch die früher „Gewerkschaftsbeiträge“ genannten Zahlungen einzelner Beschäftigter fließen an eine selbständige Abteilung innerhalb der BeB. Die Betriebsräte hatten an Einfluß gewonnen, übergeordnete Gremien eingerichtet (die nun in der BeB angesiedelt sind) und hatten als Praktiker die Gewerkschaftsfunktionäre abgelöst. Tarifverhandlungen sind durch die zentral geregelte Bezahlung aller Einwohnerinnen und Einwohner überflüssig geworden. Allen vorübergehend in Hamburg tätigen nichtdeutschen Beschäftigten steht das Existenzminimum ebenfalls zu.

Unternehmer, die ihre Waren gewinnbringend im Ausland produzieren lassen, während sie selbst in Hamburg leben, werden mit einer Sonderabgabe in Höhe des doppelten Umsatzsteuersatzes zur Kasse gebeten. Auf eine Bundesratsinitiative hin war dies schon Ende der neunziger Jahre für alle Bundesländer verbindlich geregelt worden. Verursacht hatten die Unternehmer diese Veränderung ungeschickterweise selbst: Stets hatten sie während der klassischen Standortdiskussion über die Belastung durch „versicherungsfremde Leistungen“ gejammert.

Damit brachten sie Mitarbeiter der BeB auf die Idee, auch städtische Leistungen nur noch für diejenigen zugänglich zu machen, die einen ihren Einkünften entsprechenden Beitrag in die Stadtkasse einbringen. Immer mehr Firmen verlegten daraufhin ihre Produktionsstandorte wieder ins Inland. Die 1997 von der Schrumpf-Werft Blohm + Voss freigegebenen Flächen rund um ihr vier Jahre zuvor stillgelegtes Ausbildungszentrum, die fast zehn Jahre lang brach gelegen hatten, werden mittlerweile wieder zu 70 Prozent als Gewerbefläche genutzt. Der Unmut der Naturschützer über die Ansiedlung im zwischenzeitlich entstandenen Biotop hält sich in Grenzen, da etwa ein Drittel erhalten bleiben soll. Strenge Umweltstandards für Produktionsbetriebe und eine ebenso strenge Kontrolle ihrer Einhaltung sind in ganz Hamburg seit Jahren eine Selbstverständlichkeit.

Die Verteilung sämtlicher vorhandener Arbeit in der Hansestadt regelt die im vergangenen Jahr erlassene Verwaltungsverordnung VO 1/1/2009. Jedem stehen 20 Wochenstunden betrieblicher Arbeit zu, mehr gibt's nur in begründeten Einzelfällen, für Workaholics nur mit begleitender Psychotherapie. Als Arbeit gelten grundsätzlich alle Beschäftigungen, Ausnahmen stellen Tätigkeiten dar, die andere Personen schädigen. Studierenden und Auszubildenden stehen also ebenso 1800 Mark monatlich zu wie Arbeitern und Angestellten, Erziehenden und Künstlern. Die Tarife für Kinder und Jugendliche sind nach Lebensalter gestaffelt und werden bis zur Volljährigkeit elternabhängig berechnet.

Überschüsse der Unternehmen fließen in einen Pool, den die BeB verwaltet, aus dem die städtischen Aufgaben finanziert werden. Der Rest wird anhand eines Punktesystems – entwickelt von erwerbslosen Jugendlichen, die in rasant kurzer Zeit zu Programmier-Cracks geworden waren – an die Bevölkerung verteilt für Urlaub, Hausbau, Sparkonto, je nach Bedarf und vor allem nach Wunsch. Aus diesem Grund müssen Großinvestitionen der Stadt stets von den Bürgerinnen und Bürgern mit einfacher Mehrheit abgesegnet werden. Da allen Hamburgern eine Multimedia-Grundausstattung zusteht, geht die Befragung via Internet schnell und unbürokratisch.

Da sich nun stets zwei Personen einen Arbeitsplatz teilen, ist regelmäßige Kommunikation unter allen Mitarbeitern einer Firma notwendig und somit selbstverständlich geworden. Jeder und jede wird regelmäßig über die Abläufe in anderen Abteilungen informiert. Ein Wechsel des Arbeitsplatzes alle drei Jahre ist Pflicht. Dieser kann innerhalb oder außerhalb derselben Firma erfolgen, muß aber in jedem Fall Neuland für die Beschäftigten darstellen – entweder inhaltlich oder bezüglich der Arbeitsweise. Das früher beliebte Errichten von „Erbhöfen“ und die damit häufig einhergehende zynische Gleichgültigkeit sollen damit weitgehend vermieden werden. Während der drei Jahre ist die Teilnahme an einem Bildungsurlaub Pflicht; auch die Teilnahme an einem wie oben beschriebenen Sozialtraining bleibt möglich und ist in absehbarer Zukunft sogar kostenlos zu haben.

Kurt F. ist am vergangenen Donnerstag vormittag in der City beim Eisessen gesichtet worden. Er hat ein paar Kilo zugelegt. Augenzeugen berichten weiter, daß er gemessenen Schrittes auf die BeB in der Kurt-Schumacher-Allee zustrebte. Hier werden, neben Geld, auch Möglichkeiten für einen Jobwechsel verwaltet; sie sind ganztägig per Computer oder auch persönlich beim Kundenservice zu erfragen. Ob F.s Begleiterin – eine alte Frau im Rollstuhl – seine Mutter ist, stand bei Redaktionsschluß nicht fest.

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