Sehr viel Polizei für ganz wenig Chaos

■ Die Nacht zum Sonntag am Sielwalleck / Eine Reportage über die Krawallmacher in Uniform

„Ihr hetzt Hunde auf Kinder. Ihr seid wohl verrückt geworden“, kreischt die junge Frau. Vor ihr auf dem Kopfsteinpflaster liegt die 17jährige Signe Skriver-Korsgaara. Über ihr der bellende Polizeihund. „Toll habt ihr das gemacht. Stolz könnt ihr sein“, schreit die Frau, die aus einem der Häuser in der Weberstraße gekommen ist. Ihre Stimme überschlägt sich fast. Jemand legt ihr den Arm um die Schultern und führt sie weg. Ein Polizist nimmt den Schäferhund an die Leine. Die 17jährige steht auf und wird von den Beamten an die Ecke Theodor-Körner-Straße geführt. Auch ihr Freund, der 24jährige Ulrich Bohn, wird abgeführt. Der Journalist arbeitet in Kopenhagen für eine Wochenzeitschrift und wollte in Bremen über die Chaos-Tage berichten. Das Pärchen hatte eine Gruppe von Punks beobachtet, die Samstag nacht kurz nach 23 Uhr einen Bauzaun quer über die Straße gestellt hatte. Die Polizei hetzte den Hund auf die Gruppe. Punks und Passanten flüchteten. Nur die schmächtige Signe war nicht schnell genug.

„Ich hab' den Hund gezielt eingesetzt“, sagt der blonde Polizist mit Schnauzer zu seinen Kollegen. „Der hat ihr die Beine weggehauen. Die war am Bauzaun.“ „Sie war es nicht. Ich habe alles gesehen“, meldet sich die Chronistin sofort als Zeugin. „Halt' die Schnauze. Du lügst. Sie war's.“ „100prozentig“, nickt auch sein Kollege. Keiner der fünf oder sieben Beamten ist bereit, die Zeugenaussage aufzunehmen. Eine Polizistin begutachtet die Bißwunden an der Schulter des Mädchens. „Der hat richtig zugebissen“, sagt sie. „Dafür ist er ja auch da“, knurrt der Schnauzbärtige. Und: „Die werden verhaftet. Für mich ist das schwerer Landfriedensbruch“. Ulrich Bohn wird durchsucht. Die Beamten beschlagnahmen Kamera und Diktiergerät des Journalisten. Danach werden die Dänen mit dem Polizeiwagen weggebracht.

Auf der Sielwallkreuzung haben sich derweil etwa 200 Menschen versammelt. Hier und da taucht ein bunter Schopf in der Menge auf. Doch Punks sind die Ausnahme. Kameras, Blitzgeräte und Polizeiuniformen beherrschen das Bild. Ein Punk streckt einem Journalisten die Zunge so dicht vor die Linse, daß man meinen könnte er lecke sie ab. Nichts passiert. Die Polizisten verteilen eifrig Platzverweise. Jugendliche ziehen murrend ab. Aus den geöffneten Fenstern einer Wohnung am sogenannten Gifteck dröhnen abwechselnd Radetzkymarsch, Schneewalzer und Punkmusik. Die Jugendlichen stehen rum, trinken Bier. Ab und an fliegt eine Bierdose durch die Luft. Sofort surren und blitzen die Kameras. Wie die Geier kreisen Journalisten aus ganz Deutschland um die Sielwallkreuzung. Ohne Randale keine Bilder. Ohne Bilder keine Geschichte. Doch nichts geschieht. Endlich. Gegen halb zwei versuchen ein paar Punks, Polizisten zu umarmen. Gierig drängelt sich die bundesdeutsche Journallie in die Szene. Ein paar Bierdosen fliegen. Das war's. Polizisten, Journalisten und Autonome belauern sich gegenseitig. Alle warten.

Etwa 100 Meter von der Sielwallkreuzung entfernt streiten sich am Dobben plötzlich zwei Ausländer und zwei Psychobillies – sie gehören offensichtlich nicht in die Szene an der Sielwallkreuzung. Einer der Männer zückt ein Messer und sticht zu. Ein schmächtiger Blondling humpelt auf die Sielwallkreuzung zu und sackt an einer Hauswand auf den Boden. Etwa 50 Polizisten stürmen auf den Dobben. Der junge Mann verzieht vor Schmerzen das Gesicht und zieht seine Jeans runter. Kameraleute drängeln sich um den Verletzten. Blitze zucken. „Keine Fotos bitte“, preßt der Verletzte hervor. Ein zu klein geratener Journalist klappt seelenruhig seine Aluminiumleiter auf, erklimmt drei Stufen und filmt das Opfer in Unterhose. Der Krankenwagen fährt vor. Die Sanitäter kommen an das Opfer nicht heran. Die Polizei bahnt ihnen den Weg durch die Journalisten. Kaum ist der Verletzte mit dem Krankenwagen abtransportiert, brennt mitten auf der Sielwallkreuzung eine Mülltonne. Zwei Beamten schieben den qualmenden Mülleimer weg.

Es ist kurz vor drei. Eine Bierdose fliegt durch die Luft und verfehlt nur knapp den Kopf des einen Polizisten. Drei Jugendliche setzen sich mitten auf die Sielwallkreuzung. Die Polizisten postieren sich ebenfalls dort. Mit Schutzschildern drängt sich eine Linie langsam an die drei Deliquenten auf der Kreuzung heran. Unter ihnen ist ein etwa 18jähriges Mädchen. Sie trägt einen Wollpulli und kurze Shorts. Ihre nackten Beine hat sie zum Schneidersitz gekreuzt. Vor den Jugendlichen haben sich die Journalisten aufgebaut. Derart eingekeilt räumen die Jugendlichen schließlich das Feld. Einen Moment lang stehen sich Journalisten und Polizisten von Angesicht zu Angesicht gegenüber. „Meine Herrschaften“, schreit ein Polizist die Journalisten an. „Wenn das hier zu Eskalationen kommt, sind Sie mit schuld. Das ist doch hier das Thema.“

Plötzlich ist die Sielwallkreuzung von den Polizisten umzingelt. Entkommen ist unmöglich. Der eingekreiste Gegner wird abgeführt: Punks, Autonome, Passanten, Schaulustige, Freaks. „Warum tut ihr mir das an, ich hab' euch nichts getan“, gellt der Schrei eines Punks über den Platz. Eine Antwort bekommt er nicht. Stattdessen schmeißen ihn die Beamten gegen den grünen Polizeibus und durchsuchen ihn. Nach einer halben Stunde ist der Spuk vorbei. Die Jugendlichen werden weggekarrt. Die Polizisten sammeln sich und stellen sich auf. Im Laufschritt verlassen sie nacheinander, in Reih' und Glied den Platz. „Helden“, preßt ein Jugendlicher hervor, schürzt die Lippen und spuckt auf den Boden. Kerstin Schneider

Siehe auch Seite 4 und 22