piwik no script img

In 96 Staaten ist Folter ein politisches Instrument

■ Zwei Studien beschreiben, was Folter ist und warum es immer noch Folterer gibt

Trotz des „Siegeszuges“ der Demokratie ist Folter kein verschwindendes Phänomen. Es gibt sie in 96 Staaten; Folter ist also epidemisch. Nur 92 von 186 Staaten haben im Dezember 1984 die Konvention dagegen unterzeichnet, ratifiziert worden ist sie aber nur in 76 Ländern. Trotz aller Bemühungen von internationalen und regierungsunabhängigen Organisationen, die „Politik des Schmerzes“ zu beenden, findet man sie in den sozialen und politischen Strukturen vieler Staaten vor. Auch in solchen, die sich demokratisch nennen.

Zum Thema Folter sind jetzt zwei wichtige Bücher erschienen. „Anblick der Hölle“ heißt die vor wenigen Wochen von Duncan Forrest im Auftrag von amnesty international (ai) herausgegebene jüngste Veröffentlichung. In 13 Kapiteln nehmen hier Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen, Ärzte und Psychologen Stellung zu den unterschiedlichsten Aspekten der Folter. „Es gibt keine klare Unterscheidung zwischen Folter und den Grenzen eines legitimen Verhörs“, schreibt Duncan Forrest, Chirurg und Mitarbeiter von ai. Der Begriff, was Folter ist, wo sie anfängt, hänge weitgehend von der Kultur ab, in der man aufgewachsen sei. Seit über 20 Jahren kämpft ai gegen die Folter, hat dabei einiges erreicht, aber Grund, sich zufrieden zurückzulehnen, gibt es noch lange nicht. „Anblick der Hölle“ zeigt, daß die Folterinstrumente subtiler geworden sind; sie haben Schritt gehalten mit der Entwicklung moderner Technologie.

Auch das zweite Buch, „Politik des Schmerzes“, das von dem Professor für Kriminologie an der Universität von Ottawa, Ronald D. Crelinsten, und dem Forschungsdirektor am Zentrum zum Studium sozialer Konflikte an der Universität von Leiden, Alex P. Schmid, herausgegeben wurde, ist ein Beitrag, kritischer gegenüber den Aussagen der Herrschenden zu sein. Hier wird in systematischer Form von internationalen Experten aus Kanada, der Schweiz, den Niederlanden, den USA, Deutschland, Spanien, Griechenland und Schweden über die psychologischen, kulturellen und sozialen Ursachen von Folter berichtet. Dies ist um so mehr geboten, als die „Politik des Schmerzes“ fast nie öffentlich wahrzunehmen ist. Folter geschieht im geheimen, in Isolation und in Anonymität. Deshalb gibt es auch so gut wie keine empirischen Untersuchungen über Folter, die Peiniger oder den institutionellen Rahmen, in dem die Opfer gequält werden.

In dieser Veröffentlichung wurde erstmals der Versuch unternommen, nicht nur aus der Opfer-, sondern auch aus der Täterperspektive über Folter zu berichten, ihren Beweggründen nachzugehen. Den gesellschaftlichen und sozialen Kontext von Folter behandeln Ervin Staub und Herbert C. Kelman. Ersterer weist auf den Gruppencharakter von Folter hin, wobei sie oft einhergeht mit Massentötungen. Diese These wird von Wolfgang S. Heinz gestützt, der just dieses Phänomen für Argentinien aufzeigt. Staub beschreibt die psychologischen und kulturellen Faktoren, die Individuen oder Gruppen veranlassen, andere als Feinde zu betrachten, was ihnen die Gewaltanwendung „erleichtert“. Wenn einmal der Feind ausgemacht ist, kann die Gesellschaft auf dem Weg der „Destruktion“ fortschreiten.

Eine ähnliche „progressive Eskalation“ stellt Ronald D. Crelinsten für die Gesellschaft insgesamt fest. Nach ihm ist der Folterer ein „Professioneller“, der in die gesellschaftliche Hierarchie eingebunden ist. Dieses System der Interaktion wird von Herbert C. Kelman untersucht. Anhand des politischen Systems, der Institutionen und des individuellen Täters zeigt er, wie diese Strukturen Folter in den Augen des Systems geradezu „notwendig“ machen.

Aufschlußreich sind die Interviews, die Wolfang S. Heinz mit Militärs in Argentinien, Brasilien, Chile und Uruguay durchgeführt hat. Sie zeigen, mit welchen Argumenten die Taten von Untergebenen gerechtfertigt werden: Angst vor dem Kommunismus, Mangel an Bereitschaft, die Guerilla zu bekämpfen, die Angriffe der Guerilla auf das Militär. Heinz vermutet, daß „blinder Gehorsam“ von Untergebenen eine der wesentlichen Ursachen für den „Erfolg“ von Folter ist. Federico Allodis Umfragen unter Verurteilten der Somoza-Nationalgarde in Nicaragua ergab, daß alle Folterer aus der Arbeiter- oder Bauernschaft kamen.

Beide Bücher sind wichtig und deprimierend. Und beide Bücher zeigen, daß die Nationalstaaten sich immer weniger um die Einhaltung der Menschenrechte kümmern, sie ökonomischen Interessen opfern. Ludwig Watzal

„A Glimpse of Hell. Reports on Torture Worldwide“, hrsg. von Duncan Forrest für amnesty international, Cassell/amnesty, London 1996, 214 Seiten, zu beziehen über jedes ai-Büro

„The Politics of Pain. Tortures and Their Masters“, hrsg. von Ronald D. Crelinsten u. Alex P. Schmid, Westview Press, Boulder/San Francisco/Oxford 1995, 195 Seiten, 45 Pfund

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen