: Sozialreformer mit Flügeln
Vor hundert Jahren erlag Otto Lilienthal seinen Verletzungen, die er bei einem Absturz erlitten hatte. Er war weit mehr als nur ein Hobbypilot ■ Von Falko Hennig
Steht man an der Kreuzung Köpenicker und Michaelkirchstraße in Mitte und versucht, Richtung Moritzplatz nach Kreuzberg zu schauen, so sieht man nur die Fassaden von DDR-Neubauten aus den 70er Jahren. Nichts erinnert noch daran, daß hier von 1881 bis 1896 die bemerkenswerte Maschinenfabrik von Otto Lilienthal stand.
Als 19jähriger war Lilienthal 1867 nach Berlin gekommen, hatte in einer Maschinenfabrik gearbeitet und Mechanik studiert. Noch während er in den Prüfungen steckte, brach 1870 der Deutsch- Französische Krieg aus. Lilienthal zog ins Feld und arbeitete danach als Ingenieur. Schon während seines Studiums hatte er sich, zusammen mit seinem Bruder Gustav, mit Flugapparaten beschäftigt, dieses Hobby ließ Lilienthal nicht mehr los. So entwickelte er für den Motor einer seiner Flugmaschinen einen speziellen Dampfkessel, ließ ihn 1881 patentieren und eröffnete in der Köpenicker Straße 113 eine Werkstatt zum Bau dieser Kessel.
Bald produzierte er auch Dampfheizungen, Riemenscheiben und Sirenen für Nebelhörner. Das Geschäft florierte, Lilienthal hatte bis zu 60 Arbeiter. Schon in seiner Studentenzeit, als er sich mit seinem Bruder und einem Droschkenkutscher eine Dachkammer teilte, war Lilienthal auf das aufmerksam geworden, was man damals die „soziale Frage“ nannte. Gemeint war damit alles, was es an himmelschreiendem Elend, dunklen, feuchten, überbelegten Küchenwohnungen und unbeschreiblicher Armut gab.
Am 12. März 1890 schrieb Lilienthal: „Um (meinen Arbeitern) Gelegenheit zu bieten, ihr Einkommen durch eigenes Zuthun entsprechend ihren Leistungen zu vermehren, beabsichtige ich, unter Fortfall der Accordarbeiten, Beibehaltung der jetzigen Lohnsätze eine Betheiligung derselben am Reingewinn in Höhe von 25% desselben einzuführen.“ Damit war er der erste deutsche Unternehmer, der die Arbeitergewinnbeteiligung für seine Arbeiter einführte. Daß ihm dabei der soziale Fortschritt wichtiger war als eine Erhöhung seines Profits, belegt noch eine andere Idee, für die sich Otto Lilienthal begeisterte: das Volkstheater.
Er hatte den Direktor des Ostendtheaters in der Großen Frankfurter Straße kennengelernt. Kurzerhand übernahm er die Leitung, nannte es Nationaltheater und führte Eintrittspreise von zehn und fünfzig Pfennig ein. Von nun an waren die 1.500 Plätze meistens ausverkauft. Auch als Schauspieler trat er auf. „Selbst das anspruchslose Publikum lachte ihn aus; wir, seine Angehörigen, saßen wie auf Kohlen“, erinnerte sich eine Verwandte später.
Die Begabung zum Dramatiker fehlte ihm wohl ebenso wie zum Schauspieler. Trotzdem schrieb er ein sozialkritisches Stück unter dem Titel „Moderne Raubritter“, das 1896 uraufgeführt wurde. Angeregt zu diesem Drama hatten ihn „Die Weber“ des von ihm verehrten Gerhart Hauptmann aus dem Jahr 1892. In Lilienthals Stück geht es um den Konflikt zwischen einem jungen Handwerker und einem skrupellosen Spekulanten. So lächerlich dieser Ausflug in die Dramaturgie scheinen mag, so bemerkenswert ist Lilienthals soziales Engagement, für das er Geld und Zeit aufbrachte. Lilienthal war überzeugt: „Für zwanzig Pfennig muß der Arbeiter ins Theater gehen können.“
Otto Lilienthal war Mitglied der für Pazifismus, Humanismus und Völkerverständigung eintretenden „Gesellschaft für ethische Kultur“, in der sich Ideen der Bodenreform mit denen der Freilandbewegung trafen. Diese Überlegungen führten 1893 zur Gründung der Obstbaukolonie „Eden“ in Oranienburg. Otto Lilienthal lieferte den Dampfkessel für die Obstverwertung. Auch die erste öffentliche Bibliothek in Berlin wurde 1895 von dieser Gesellschaft gegründet.
Erwähnt werden muß auch der berühmte Ankersteinbaukasten, den Otto mit seinem Bruder Gustav entwickelte und für den sie aber nicht genug Kunden fanden. So verkauften sie sämtliche Rechte an einen Unternehmer, der die Erfindung patentieren ließ und damit Millionen verdiente.
Otto Lilienthals Einsatz für die verschiedensten sozialen Projekte endete erst mit seinem Absturz am 9. August 1896, an dessen Folgen er am nächsten Tag in Berlin starb. Die Hobbyfliegerei ist gefährlich, und für niemanden war sie gefährlicher als für den ersten Hobbyflieger der Welt.
Alle Abbildungen aus: Otto und Gustav Lilienthal. Ihr Leben in Bildern. FAB Verlag
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