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Die Eroberung der bekannten Welt

Intrigen, Eifersüchteleien, Fehlschläge, ein verrückter König und ein Preisgeld von astronomischer Höhe: Die amerikanische Schriftstellerin Dava Sobel hat die Geschichte von der Entdeckung der Längengrade geschrieben  ■ Von Hanns Zischler

Wie ihren luftigen Nachfolgern, den Ballonfahrern im Wolkenmeer, muß den Seefahrern bis Mitte des 18. Jahrhunderts zumute gewesen sein, wenn sie auf küstenfernen Fahrten die Meere querten. Der windsüchtige Ballon kennt keine direkte Navigation, er läßt sich nur ahnungsweise durch das Labyrinth der launisch wechselnden Luftströme dirigieren. Das Segelschiff driftete nicht minder willkürlich durch die Wasser, weil dem Navigator lange Zeit kein wegweisendes Koordinatennetz zu Gebote stand, an das er sich hätte halten können. Er konnte allenfalls sein Schiff auf den Breitengraden entlang steuern, die ihm durch Tageszeit, Sonnenstand und Position der Sterne bekannt waren. Es war, heute unvorstellbar, eine Bewegung in schierer Zweidimensionalität. Man konnte (wie zum Beispiel der getaufte Jude Columbus) mit diesem Breitengradsegeln kontinentalen Verfolgungen entkommen und neue Kontinente gewinnen, ohne jemals zu wissen oder berechnen zu können, welchen Punkt des unermeßlichen Ozeans man gerade passierte.

Die zuverlässige Bestimmung der Längengrade wurde mit der wachsenden Bedeutung der Schiffahrt für die europäischen (See-) Mächte des 17. und 18. Jahrhunderts ein immer dringlicheres Problem. Dava Sobel erzählt die abenteuerliche Entdeckung dieser unsichtbaren und unverzichtbaren mathematischen Linien packend wie eine Sportreportage im Zeitraffer über ein ganzes Jahrhundert hinweg.

Das Problem bei der Ermittlung der Längengrade bestand darin, daß die natürlichen Himmelserscheinungen, die zur Berechnung der Breitengrade taugten, astronomisch nicht verläßlich waren. Denn der Längengrad beruht auf einer differentiellen Zeitmessung, für die es unumgänglich ist, die feste Ortszeit des Ursprungshafens beziehungsweise des Null-Meridians mit der jeweiligen Schiffszeit exakt vergleichen zu können. Abgesehen von sehr ernst gemeinten Phantastereien, wie einer vergleichenden Schall- und Leuchtkugelmessung anhand von vielen über die Weltmeere verteilten Signalschiffen mit fest datierten Böllerschüssen, kamen nur zwei – stark miteinander rivalisierende – Methoden in Frage. Der erste, von Galilei entwickelte Vorschlag wollte das Dilemma astronomisch packen: Die regelmäßige Bewegung der Jupitermonde schien ihm so zuverlässig zu sein, daß man überall auf der Welt, also auch auf den Weltmeeren, diese tabellarisch festgehaltene Himmelserscheinung zur differentiellen Zeitmessung heranziehen könnte. Galileis Lösung war im Prinzip richtig und wurde in der Folgezeit für die kontinentale Kartographie genutzt – Frau Sobel erwähnt in diesem Zusammenhang die Klage Ludwig XIV., „daß er mehr Land an seine Astronomen verloren habe als an seine Feinde“. Das einzige, allerdings gravierende Problem für Galilei war die durch Wind und Wetter sehr eingeschränkte Beobachtbarkeit der Jupitermonde auf hoher See. Auch Newton war von der Richtigkeit der galileischen Methode überzeugt, und möglicherweise hat die mit großer Autorität vorgetragene Präferenz des Astronomischen zu einer folgenschweren Blindheit gegenüber dem zweiten Weg der Berechnung der Längengrade geführt. Diese bestand in der mechanischen Anwendung der vergleichenden Zeitmessung über große Distanzen: Es müßte genügen, zwei identische Uhren zu konstruieren, die die Zeitdifferenz zwischen dem Ausgangspunkt und dem Zielort festhalten. So einfach dieses Problem anmutet, so schwierig war es in der Praxis zu lösen. Kein Mechaniker der Welt konnte zur damaligen Zeit auch nur einigermaßen regelmäßig laufende Uhrwerke bauen; von der Zuverlässigkeit auf hoher See ganz zu schweigen.

Der Startschuß für das vielleicht längste Wettrennen in der Geschichte der praktischen Wissenschaft wurde mit dem Erlaß der „Longitude Act“ im Jahr 1714 durch die englische Königin Ann gegeben. Dem Entdecker der exakten Längengradmessung wurde die astronomische Summe von 20.000 Pfund Sterling (nach heutigem Wert mehrere Millionen Mark) geboten. Die Höhe der Summe brachte unverhüllt das materielle Interesse der englischen Seemacht an der Lösung eines Problems zum Ausdruck, in dem epistemologische und militärische Interessen unauflösbar miteinander verbunden waren. (Daß der Null- Meridian durch das für den großen Halley erbaute Observatorium von Greenwich zu laufen habe, war für die nicht nur die Meereswellen beherrschende Britannia eine Selbstverständlichkeit, die allerdings lange Zeit von Frankreich angefochten wurde.)

Dava Sobel schildert mit großer Anschaulichkeit den lebenslangen Kampf des höchst starrsinnigen Uhrmachers John Harrison um die Erringung des höchsten Preises und seine Querelen mit der nicht minder starrsinnigen „astronomischen“ Fraktion, die über die Preiswürdigkeit zu befinden hatte. „The prize we sought, is won“, hätten John Harrison und sein Sohn nach einer fast sechzigjährigen Schlacht ausrufen können, doch verschlägt es den Siegern schier die Sprache vor so vielen Intrigen, Eifersüchteleien und praktischen Fehlschlägen. Die Ironie eines eher ungnädigen Schicksals wollte es, daß ausgerechnet der als „Mad King“ verrufene George III. die Methode Harrisons 1773 als das Englands Welt-Körper stützende Korsett anerkennen sollte. Vier Meisterwerke der Uhrmacherkunst haben die Harrisons im Lauf eines halben Jahrhunderts hergestellt, wahre Zeitkammern, jede einzelne ein absoluter Prototyp, eine Camera lucida, in denen die unsichtbare geographische Länge fixiert werden sollte. H(1-4), wie ein chemisches Element oder eine physikalische Maßeinheit heißen diese heute noch erhaltenen hochseetauglichen chronometrischen Ungetüme. Die vertrackten physikalisch-mechanischen Sachverhalte werden von Dava Sobel kenntnisreich, gut verständlich und vorbildlich gerafft dargestellt (und von Mathias Fienbork nautisch versiert übersetzt), doch ist es jammerschade, daß in der deutschen Ausgabe weder eine der minutiös geschilderten Uhren noch die großartigen Porträts der miteinander rivalisierenden Erfinder abgebildet sind.

Ein monströses Nachspiel auf die triumphalistische Norm von Greenwich hat Joseph Conrad in seinem Roman „Der Geheimagent“ erfunden. Verloc, der als dummschwätzender Anarchist agierende Polizeispitzel, wird von seinen reaktionären Auftraggebern gedungen, einen terroristischen Anschlag auszuführen, der das liberale England zur Härte zwingen soll. Verloc transportiert mit seinem jungen Gehilfen eine Bombe nach Greenwich, die das Observatorium, den Null-Meridian, in die Luft sprengen soll: ein Anschlag auf die Zeit und die Zeitmessung! Das Attentat gelingt – fast. Auf dem unebenen Parkweg, der zum Observatorium hinaufführt, stolpern die Bombenleger, und statt des Null-Meridians fliegen sie selbst in die Luft.

Dava Sobel: „Längengrad“. Deutsch von Mathias Fienbork. Berlin Verlag, Berlin 1996, , 240 Seiten, 36DM

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