: Eine Politik aus Größenwahn, Massakern und Vertreibungen
Mate Boban, der erste Präsident von Herceg-Bosna, stellt die Weichen für den Krieg zwischen Muslimen und Kroaten in den Jahren 1993/94 ■ Aus Split Erich Rathfelder
Eine Kurve auf der Straße zwischen Mostar und dem westherzegowinischen Ort Citluk zwingt die Autos, langsamer zu fahren. Am 14. August 1992 nähern sich zwei Fahrzeuge dieser Kurve. In den Wagen: Blaz Kraljewić, der inzwischen legendäre Kommandant der HOS-Miliz, und sieben seiner Unterführer. Blaz Kraljewić ist in Bosnien populär, nicht nur weil er Kommandant ist und von militärischen Dingen viel versteht. Er hat entscheidend zur Rückeroberung des serbisch besetzten Mostars im Juni 1992 beigetragen. Und er steht für das Konzept, das politische Bündnis der Kroaten und Muslime in Bosnien- Herzegowina militärisch auszubauen. In der HOS selbst kämpfen viele Muslime. Vor allem in Zentralbosnien, in Zenica, ist die Organisation stark.
Plötzlich krachen Schüsse. Die Insassen der Wagen werden von Kugeln aus Maschinenpistolen durchsiebt. Die Führung der HOS ist ausgeschaltet. Damit ist der Machtkampf auf kroatischer Seite entschieden. Die Truppen des Kroatischen Verteidigungsrates HVO haben nun die eindeutige Oberhand. Und sie gehorchen der politischen Führung der Westherzegowina in Grude.
Dort sitzt Mate Boban, Präsident des am 22. Juli 1992 gegründeten kroatischen Separatstaates Herceg-Bosna, in einem ehemaligen Verwaltungsgebäude, das zur Schaltstelle der kroatischen Politik umfunktioniert worden ist. Von Boban wird erzählt, er sei in der kommunistischen Zeit als Eierdieb verurteilt worden und hätte später als Polizeispitzel gedient. Angesichts seiner Rednergabe sei er dann in radikalen Kreisen aufgestiegen. Immerhin wurde der Mann schon im März 1992 zum Vorsitzenden des bosnischen Zweigs der Kroatischen Demokratischen Gemeinschaft (HDZ) bestimmt, Schwesterpartei der in Kroatien regierenden HDZ des Präsidenten Franjo Tudjman. Und die Gerüchte wollen nicht verstummen, daß Boban bei dem Mordanschlag auf Kraljewić seine Hand im Spiel hatte. Die Schüsse abgegeben aber haben Kriminelle. Im Verdacht stehen die Männer von Mladen Naletelić, genannt Tuta, der heute den kriminellen Untergrund in Mostar kontrolliert. Boban ist nun die eindeutige Führungsfigur bei den westherzegowinischen Kroaten.
Die besonnenen Politiker werden zur Seite gedrängt
Boban fordert nach der Bluttat die Kämpfer der HOS auf, in die HVO einzutreten. Die HVO wird in den Kroatengebieten Zentralbosniens stärker. Die dortigen demokratischen Politiker der Kroaten werden zur Seite gedrückt. So Stjepan Klujić, ein charismatischer Mann, der für den Staat Bosnien-Herzegowina und die multiethnische Gesellschaft eintritt und sogar über Anhänger bei nichtkroatischen Bevölkerungsgruppen verfügt. Obwohl er der Tudjman-Partei HDZ angehört und Vorgänger von Boban als Präsident der Partei in Bosnien ist, verfolgt er eine diametral entgegengesetzte Linie. Klujić weiß, daß ein Krieg zwischen Kroaten und Muslimen zu einer vernichtenden Niederlage der Kroaten in Zentral- und Ostbosnien führen muß. Denn die rund 600.000 Kroaten dieser Regionen leben verstreut, auch in den ländlichen Gebieten vermischt, vor allem mit muslimischer Bevölkerung. Klujić warnt vor Bobans und Tudjmans Politik. Als Mitglied des bosnisch-herzegowinischen Staatspräsidiums versucht er zusammen mit dem Vorsitzenden der Kroatischen Bauernpartei, Ivo Komsić, den Krieg im Kriege zu verhindern. Immerhin werden die beiden Politiker durch den 1995 zum Kardinal erhobenen Erzbischof von Sarajevo, Vinko Puljić, und dem Franziskanerorden von Zentralbosnien unterstützt.
Doch die Macht kommt aus den Gewehrläufen. Diesen Lehrsatz Mao Tse-tungs verstand Mate Boban genausogut wie Radovan Karadžić, der Serbenführer. Und wie Karadžić beginnt Boban im eigenen Lager jegliche Opposition zu unterdrücken und Andersdenkende als Verräter zu brandmarken. Dies kann er nur, weil er die Unterstützung von Franjo Tudjman genießt.
In seinen Reden beschwört der kroatische Präsident fortan die Gefahr eines islamischen Fundamentalismus. Die Muslime Bosniens, die vor diesem Krieg in ihrer übergroßen Mehrzahl Atheisten waren, hören verwundert diese Töne, die in Diktion und Wortwahl jenen von Slobodan Milošević gleichen. Zenad Avdić, ein tonangebender Journalist der bosnischen Wochenzeitung Slobodna Bosna, ahnte damals, im September 1992, schon, was da kommen wird: „Wir stehen vor einem Krieg mit den Kroaten.“
In der Tat häufen sich die Zwischenfälle. Im Oktober kommt es zu ersten Schießereien zwischen Muslimen und Kroaten in der zentralbosnischen Stadt Prozor. Und die Spannungen steigen, als die kroatischen Einheiten der HVO sich plötzlich aus der Stadt Jajce zurückziehen. Die bosnisch-muslimischen Truppen sind noch zu schwach, um den serbischen Angriffen alleine widerstehen zu können. Im Oktober 1992 fliehen über 40.000 Menschen in einem langen Treck über das hohe Massiv des Vlasić-Gebirges nach Travnik – Kroaten und Muslime gleichermaßen. Die Stadt Jajce fällt an die Serben. Das Mißtrauen gegenüber den Kroaten ist auf muslimischer Seite erwacht.
Und es sollte bald neue Nahrung finden. Denn die Unterhändler der Europäischen Union und der Vereinten Nationen, Lord Owen und Cyrus Vance, haben einen neuen Friedensplan vorgelegt. Nach ihm sollen die zentralbosnischen Gebiete bis zur Linie Travnik–Sarajevo an die Kroaten fallen. Da in diesem Raum die Bevölkerung – jeweils 45 Prozent Muslime oder Kroaten – gemischt ist, bedeutet der Plan, daß die Muslime sich den Kroaten beugen müßten. Mate Boban gefällt der Plan, die Kroaten unterzeichnen ihn sofort ohne weitere Verhandlungen. Bis zum 15. April 1993 sollen alle bewaffneten Kräfte der Muslime sich den Kroaten ergeben. „Die Welt“, so Boban damals zum Verfasser, „hat uns diese Gebiete gegeben. Wenn nötig, werden wir unser Recht mit Gewalt durchsetzen.“
Und das geschieht schon wenige Tage später. Am blutigen Wochenende des 16./17. April 1993 richtet eine Spezialeinheit der HVO ein Massaker in Ahmeći, einem Dorf im zentralbosnischen Lasva-Tal an. Über 150 Menschen werden in ihren Häusern ermordet und verbrannt. Der ehemalige Soziologie-Student Darjo Kordić, der Kommandant der zentralbosnischen HVO-Truppen, befiehlt seinen Leuten, die den Kroaten zugesprochenen Gebiete von Muslimen zu säubern. Für seine Taten ist er nun zusammen mit dem Kommandanten von Vitez, Tihomir Blaskić, in Den Haag angeklagt. Ihm wird die Errichtung von Konzentrationslagern in Busovaca und in Vitez vorgeworfen.
Die bosnische Armee tritt die Gegenoffensive an
Der Plan aber funktioniert nicht. Die muslimisch-bosnischen Truppen sind nicht mehr so leicht zu überrumpeln wie im Krieg gegen die Serben. Die bosnische Armee hat sich inzwischen organisiert und dazugelernt. Trotz schwierigster Bedingungen – sie steht in einem Zweifrontenkrieg und ist als einzige Armee von dem von der UNO verhängten Waffenembargo betroffen – kann sie die Angriffe der Kroaten zurückweisen. Ab Juni geht sie sogar in die Gegenoffensive: Aus Travnik, Konjić, Jablanica werden die HVO-Truppen vertrieben, die größte kroatische Enklave in Zentralbosnien, die von Travnik bis Sarajevo reichte, wird in zwei Teile zerschnitten. Die „Muslimische Brigade“ aus Zenica tut sich dabei auch mit Verbrechen hervor, die katholische Bevölkerung wird von ihr terrorisiert. So bei Kakanj in der Nähe von Zenica oder in den Dörfern um Travnik. Als Vareš von der bosnischen Armee eingenommen wird, flieht die kroatische Mehrheitsbevölkerung über serbisches Gebiet.
Für die Kroaten Zentralbosniens tritt ein, was Klujić vorausgesagt hat. In langen Kolonnen verlassen Tausende Zentralbosnien in Richtung Küste. Die katholisch-bosnische Bevölkerung war das alte Herz Bosniens, ihre Kultur trug ganz wesentlich zu jener Atmosphäre der Toleranz bei, die lange Zeit Bosnien charakterisiert hatte. Sie fühlten sich als Katholiken und Bosnier, weniger als Kroaten. In den Krieg geworfen, bezahlt diese Bevölkerung nun für Bobans Politik. Die traumatische Erfahrung der Niederlage und der Vertreibung hat sie jedoch auch radikalisiert. Anstatt sich gegen die Westherzegowina zu stellen, solidarisieren sich heute doch viele mit der westherzegowinischen Politik. „Die Kroaten Zentralbosniens sollen erst einmal richtige Kroaten werden“, fordert 1993 Jadranko Prlić, der ehemalige Ministerpräsident von Herceg-Bosna.
Aber es geht bei dem Kampf schon um mehr. Boban hat mit Karadžić Absprachen getroffen. Die HVO arbeitet seit Sommer 1993 eng mit den serbischen Streitkräften zusammen. Es ist zwar keine offene Koalition, an einzelnen Frontabschnitten gehen die HVO und die serbischen Truppen aber gemeinsam gegen die Muslime vor. Dennoch wird die HVO geschlagen. Sie verliert fast ein Drittel des von ihr kontrollierten Gebiets an die bosnische Armee. Aus Rache gibt ihr Kommandeur den Befehl, die alte historische Brücke von Mostar zu zerstören. Denn auch in Mostar waren die Kroaten nicht weitergekommen. Mit aller Macht hatten sie den Sommer 1993 über versucht, die Stadt einzunehmen. Die Muslime kontrollierten mit Sarajevo, Tuzla und Zenica drei große Städte in Bosnien, die Serben Banja Luka, deshalb sei es nur natürlich, daß Mostar an die Kroaten fiele, argumentierten die kroatischen Führer. Am 2. Juni 1993 werden alle Muslime, die seit 1992 in der HVO Seite an Seite mit den Kroaten gekämpft haben, verhaftet und in die Konzentrationslager Dretelj, Gabela und Heliodrom gebracht. Auch Zivilisten werden verhaftet. Fast 10.000 muslimische Männer aus dem Raum Mostar sind gefangen. Nun beginnen die Vertreibungen der Angehörigen aus West-Mostar und aus der südlich gelegenen Region von Stolac und Čapljina. Zusammengenommen über 60.000 Menschen verlieren ihre Heimat. Die muslimischen Dörfer rund um Stolac werden dem Erdboden gleichgemacht.
Im Herbst 1993 ist Ost-Mostar fast vollständig eingeschlossen. Auf den südlichen Bergen stehen die Truppen von Karadžić, von den westlichen Bergen schießen die Kroaten. Obwohl nur noch ein schmaler Pfad durch das Neretva- Tal nach Zentralbosnien führt und Hunger die Bevölkerung plagt, gibt sie nicht auf. Es gehört wohl zu den größten militärischen Leistungen dieses Krieges, Ost-Mostar gehalten zu haben.
Die Fronten sind festgefahren. Die westherzegowinische Führung verlegt sich nun darauf, die humanitären Hilfslieferungen nach Bosnien zu plündern. Alle Hilfsorganisationen müssen fortan in einem Büro in Siroki-Brijeg, einem Städtchen in den Bergen nahe Mostar, Papiere einholen. Die Hilfsorganisationen werden so gezwungen, einen Teil der Ladung an die Kroaten abzugeben. 20 bis 50 Prozent beträgt der Wegezoll.
Diese Methode haben die Serben Karadžićs um Sarajevo vorexerziert. Während nur wenige Nahrungsmittel in diesem Hungerwinter 1993/94 nach Sarajevo und andere muslimisch kontrollierte Gebiete gelangen, quellen in der Westherzegowina die Lagerhäuser über. Hilfsgüter werden billig verschleudert. Noch heute müssen muslimische Fahrer „Zoll“ bezahlen, wenn sie ihre Lastwagen durch die Westherzegowina bringen.
Erneuerte Koalition
Die Drohungen aus Zagreb und Belgrad, Bosnien muslimfrei zu machen, werden ernst genommen. Endlich schrillen die Alarmglocken in Washington und Bonn. Die Europäer hätten versagt, heißt es in Washington, nun müßten die Amerikaner auf die Bühne treten.
Schon im Oktober 1993 kommt es zu ersten Kontakten mit Deutschland über die Frage, wie der Krieg im Kriege zu beenden sei. Die deutsch-kroatischen Beziehungen stehen zu diesem Zeitpunkt nicht zum besten. Im Mai 1993 hat Außenminister Klaus Kinkel gegen das kroatische Vorgehen in Bosnien vehement protestiert. Jetzt schlägt er vor, die Unverletzlichkeit der Grenzen Kroatiens durch einen Beschluß des Weltsicherheitsrats bestätigen zu lassen. Mit dieser Unterstützung soll das gestörte Verhältnis zwischen Deutschland und Kroatien entkrampft werden. Und gleichzeitig üben die Amerikaner von sich aus auf Tudjman Druck aus, um den Krieg gegen die Muslime zu beenden. Versprochen wird eine Militärhilfe für die kroatische Armee und die Integration Kroatiens in die Europäische Union. Im Dezember werden Verhandlungen aufgenommen. Tudjman gibt nach. Mate Boban wird gestürzt. An seine Stelle tritt der Zentralbosnier Kresimir Zubak.
Im Februar 1994 flauen die Kämpfe ab. Im März wird das Washingtoner Abkommen unterzeichnet. Die muslimisch kontrollierten Gebiete werden mit Herceg-Bosna in einer Föderation vereinigt. Doch die Elite in der Westherzegowina meldet Widerstand an. Sie verfolgt nach wie vor das Ziel, Herceg-Bosna zu erhalten und die Vereinigung mit Kroatien zu erreichen. Geschossen wird aber vorerst nicht mehr.
Der erste Teil dieser dreiteiligen Serie über die Westherzegowina erschien am 2. August
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