Phantom Mauer

Nicht nur Touristen haben fünfunddreißig Jahre nach dem Mauerbau und sechs Jahre nach dem Fall Schwierigkeiten, sich an deren Verlauf zu erinnern  ■ Von Eva Behrendt

„Wo, um Himmels willen, verlief eigentlich die Mauer?“ Helga Kaufmann aus Gießen vergleicht hilflos die rote Linie in ihrem Stadtplan mit der realexistierenden Zimmerstraße. „Hier soll die Mauer gestanden haben – mitten auf der Straße?“ fragt die Hausfrau irritiert. Helene und Lionel, zwei jugendliche Touristen aus dem französischen Rouen, verlassen gerade das Museum am Checkpoint Charlie. Nach dem Mauerverlauf gefragt, vertreten sie eine eigenwillige Theorie: Die Mauer sei mitten entlang durch die Friedrichstraße gelaufen. Falsch. Auch Dieter aus Charlottenburg muß erst mal überlegen. „Na ja ... die Häuser auf der nördlichen Seite der Zimmerstraße gehörten auf jeden Fall noch zum Westen“, spekuliert der Student, „aber so genau kann ich das gar nicht sagen.“ Auch das ist falsch.

Silvia Lehrke hingegen erinnert sich als Hauswartsfrau der Zimmerstraße 11 nur allzu gut an den tatsächlichen Mauerverlauf: „Man trat aus dem Haus und stand direkt vor der Mauer. Wer mit dem Wagen bis an die elf wollte, mußte die Einfahrt über die Kochstraße benutzen“, erzählt die Kreuzbergerin, die seit ihrer Geburt in der Zimmerstraße wohnt.

Im Rätselraten um den genauen Verlauf der Mauer übt sich inzwischen nicht mehr nur der Hauptstadttourist, sondern auch mancher Berliner, der nicht in unmittelbarer Nähe der innerstädtischen Grenze wohnt. Wer nicht wachen Auges durch die Stadt läuft und anhand versteckter Indizien den alten Grenzverlauf zu rekonstruieren vermag, dem bleibt nur der Blick auf die wenigen, aber dafür populären Mauerrelikte wie die East Side Gallery oder die Mauerabschnitte in der Niederkirchner- und Bernauer Straße. Besonders an der Bezirksgrenze Kreuzberg/ Mitte, scheint in manchen Straßen kaum etwas darauf hinzuweisen, daß man hier noch vor sechs Jahren nicht von einer Straßenseite zur anderen wechseln konnte.

Die Mauer ist unauffindbar. Ergebnis dessen, daß dem historischen Ruf „Die Mauer muß weg!“ nicht nur die Mauerspechte, sondern auch Stadt und Bund allzu schnell Folge leisteten. Für den Erhalt der wenigen verbliebenen Mauerabschnitte setzen sich in erster Linie Privatpersonen ein. Ihre Sorge gilt vor allem der unzureichenden Absicherung der Restmauer. Kaufmann Erich Stanke beispielsweise, dem eine gut erhaltene Mauerstrecke am Potsdamer Platz gehört, nicht aber das Grundstück, auf dem sich das – nicht denkmalgeschützte – gute Stück befindet, beklagt die mangelnde Unterstützung von Stadt und Bund bei seinem Bestreben, die Mauer an Ort und Stelle zu erhalten. „Die vollmundigen Bekenntisse von Politikern, die sich für die Konservierung der letzten Mauerabschnitte, aussprechen, nützen gar nichts, solange Verwaltungsbeamte immer wieder dieses Ansinnen ignorieren“, schimpft Stanke. Und die „Arbeitsgemeinschaft 13. August“ fordert der Stadt gegenüber das Recht, die freiliegende Mauer in der Niederkirchnerstraße „aus gemeinsamer eigener Kraft“ mit einem Schutzzaun zu versehen, der dem interessierten Betrachter dennoch nicht die Sicht verstellt.

An der Bernauer Straße (zwischen Garten- und Ackerstraße) stehen noch gut 70 Meter „Grenzmauer“. Hier hätte schon 1995 der Bau einer Mauergedenkstätte gemäß den Plänen des Stuttgarter Architektenbüros Kohlhoff & Kohlhoff beginnen sollen. Bisher hat sich allerdings nicht viel gerührt: Zwar sorgfältig vergittert, aber noch nicht einmal mit einer Hinweistafel versehen, brütet das „Niemandsland“ hier öde vor sich hin. Die dazugehörige Hinterlandmauer, die einst den Friedhof der Sophiengemeinde vom Grenzstreifen abtrennte, ist inzwischen abgerissen worden. „Unser Projekt ruht nicht, es geht nur nicht voran“, sagt Marie-Luise Warga von der Senatverwaltung für Wissenschaft, Kultur und Forschung und erklärt den Stillstand mit bürokratischen Hemmnissen. Überdies habe man sich in der Kostenberechnung verschätzt. „Bis Ende September“, meint Warga, „werden nun die Baukosten noch einmal berechnet.“

Auch Friedhofsbesucher G., der auf Ostberliner Seite schon seit 1976 nur wenige Meter vom Patrouillenweg entfernt die Gräber seiner Verwandtschaft wässert, kann nicht mehr genau ausmachen, wo eigentlich die innere Mauer stand, welche die DDR- Bürger vom Grenzbereich fernhalten sollte. Lange überlegt er, ob es überhaupt eine zweite Mauer direkt am Friedhof gegeben hat. „Wissen sie“, lächelt er dann, „das ging alles so schnell ... und irgendwie gewöhnt man sich so rasch an das Neue, daß man das Alte ganz schnell wieder vergißt.“