: "Ganz normaler" Justizirrtum
■ Freispruch für Michael Mager, der sechs Jahre unschuldig im Gefängnis saß. Staatsanwaltschaft wird Beschwerde gegen zugesprochene Entschädigung einlegen
Nach zwölf Jahren wurde gestern ein folgenschwerer Justizirrtum korrigiert. Der 33jährige Michael Mager wurde vom Landgericht von einem Mord freigesprochen, den er zwar gestanden, aber nicht begangen hatte. Nachweislich habe nicht Mager, sondern der geständige Serienmörder Thomas Rung 1983 die 77jährige Hauswirtin getötet, sagte der Vorsitzende Richter Achim Sachs.
Das Gericht hob nicht nur das damalige Urteil auf. Es sprach dem Stadtreiniger auch eine Entschädigung für die zu Unrecht abgesessene Haft zu. Anwalt Rainer Elfferding bezifferte die Summe auf etwa 30.000 Mark. Mager war zu acht Jahren Jugendstrafe verurteilt worden, von denen er sechs absaß. Staatsanwältin Sigrid Nielsen, die Freispruch ohne Entschädigung beantragt hatte, wird Beschwerde beim Kammergericht einlegen. Der Angeklagte habe „jegliche Sorgfalt außer acht gelassen, um sich vor einem Schaden durch die Strafverfolgungsbehörden zu schützen“, schob sie Mager, der über einen geringen Intelligenzquotienten verfügt, die alleinige Schuld zu. Kein einziges Wort des Bedauerns kam über ihre Lippen. Die Beamten hätten nicht darauf kommen können, daß Mager unschuldig ist, verteidigte sie auffällige Unstimmigkeiten in der Beweisführung.
Das sah das Gericht glücklicherweise anders. Richter Sachs sprach von „groben Fehlern“. Wer ohne ersichtlichen Grund die Tatzeit von abends auf morgens früh ändere, dem sei „mit Vorsicht zu begegnen“. Es sei „unvertretbar“, daß Magers Alibi – er war zur Tatzeit nachweislich auf dem Sozialamt – nicht überprüft wurde. Verteidiger Elfferding kritisierte die ermittelnden Beamten, das Gericht und den Pflichtverteidiger. Allen hätte auffallen müssen, daß die von Mager angegebenen Schläge auf den Kopf der Vermieterin, die im Obduktionsbericht nicht auftauchen, unmöglich stimmen konnten. Von einem Justizskandal wollte er aber nicht sprechen. „Wir haben es mit dem ganz normalen Alltag der Justiz zu tun gehabt. Das ist viel schlimmer.“
Mit Erleichterung nahm Mager das Urteil auf. „Ich fühle mich absolut gut“, sagte er. Richter Sachs hatte ihm zuvor eindringlich nahegelegt, das Geld „sinnvoll zu verwenden“. Mager war jahrelang der Spielsucht verfallen.
Die meisten Personen, die vor zwölf Jahren an Magers Verurteilung mitgewirkt haben, sind entweder verstorben, im Vorruhestand oder leiden an Gedächtnisschwund. So will sich der Pflichtverteidiger, der ihm geraten hatte, bei dem Geständnis zu bleiben und nicht in Revision zu gehen, nicht mal mehr an einen „Fall Mager“ erinnern. Barbara Bollwahn
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