■ Verbirgt sich hinter der Empörung über das milde Urteil gegen den SS-Hauptmann Erich Priebke Sühnehunger?
: Vielleicht ein Fall Militärjustiz

Die in der Bundesrepublik für den „Fall“ zuständige Generalstaatsanwaltschaft Hamm vertritt den Standpunkt, Priebkes Verhalten sei zumindest als Beihilfe zum Mord zu werten, die Tat nicht verjährt. Die Londoner Times bemängelt, daß die Anklage auf mehrfachen Mord statt auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit plädiert habe, während der Corriere della Sera empfiehlt, keine juristischen Vorwände zu erfinden, der alte Dummkopf solle mit seinen eventuellen Gewissensbissen doch sterben, wo er wolle. Einige Stimmen stellen einen Zusammenhang mit ungesühnten alliierten Kriegsverbrechen des Zweiten Weltkrieges her.

Als Pars pro toto kann hier der Abwurf der Atombomben gelten, der in der amerikanischen Öffentlichkeit eher zwiespältig beurteilt, von Pentagon-Juristen immer noch als völkerrechtskonform bewertet wird. Zu denken ist aber, dazu haben wir Deutschen allen Anlaß, an viele ungesühnte deutsche Kriegsverbrechen, die in unserer Gesellschaft ebenfalls kontrovers behandelt, ganz vergessen oder als bloße Reaktion auf gegnerisches Handeln hingestellt werden. Und da soll nun, suggerieren derartige Vergleiche, die Tat eines kleinen SS-Hauptmanns nach über 50 Jahren abgeurteilt werden!

Im deutschen Blätterwald fand Heinz-Joachim Fischer (Frankfurter Allgemeine Zeitung) die Formel, das Gericht habe italienische Mythen zerstört mit seiner „weisen Sentenz gegen einen vorauszuhörenden Chor der Empörung“. In den nationalen wie internationalen Reaktionen auf das Urteil überwiegt Empörung – zu Recht?

Wenig hilfreich sind für eine Antwort weder Empörung noch der Hinweis auf ungezählte Kriegsverbrechen im und nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Kriegsvölkerrecht galt und gilt trotz immer vorkommender Verletzungen. Es galt und gilt auch für Priebke. Darum sollte zunächst gefragt werden, was ihm vorzuwerfen ist. Es ist darüber hinaus zu fragen, welche Umstände ihn entlasten können. Das römische Gericht hat ja bei seiner Entscheidung Strafmilderungsgründe berücksichtigt. War dies rechtens?

Die deutschen Kommandostellen in Rom haben den von Hitler gebilligten Vorschlag gemacht, den Tod der 33 beim Anschlag in der Via Rasella umgekommenen Südtiroler Polizisten durch Erschießung von 330 (1:10) Repressalgefangenen zu sühnen. Bis auf wenige Ausnahmen waren das Männer, die schon vor dem Anschlag als Antifaschisten eingesperrt waren, sowie 73 Juden. Keiner hatte mit der Aktion der Partisanen etwas zu tun, auch nicht der 14jährige Junge.

Priebke führte bei der Exekution die Strichliste. Er erschoß eigenhändig zwei Opfer. Warum hat er zugelassen, daß 335 Gefangene umgebracht worden sind? Waren die fünf Überzähligen nur ein Versehen? Der Befehl deckte dies nicht. Insofern kann von Befehlsnotstand nicht die Rede sein. Hitler hatte nicht angeordnet, daß sich SS-Offiziere an den Exekutionen beteiligten. Kappler soll dies befohlen haben, verbunden mit der Drohung, alle erschießen zu lassen, die seine Anweisungen nicht befolgten, so Priebke. Aber Kappler hätte so gar nicht verfahren können. Eine solche Machtfülle besaß nur Himmler und letztlich nur Hitler als oberster Gerichtsherr. Das war auch dem SS-Offizier Priebke klar, auch wenn er dem Gericht eine andere Version zumutete. Befehlsnotstand ist hier schwerlich anzunehmen. Und: Hatten sich nicht zuvor, ohne bestraft zu werden, Angehörige des Bozener Polizeiregiments außer Stande erklärt, die Exekutionen durchzuführen?

War ferner nicht schon die Anordnung der 1:10-Quote völkerrechtswidrig und zumal die Auswahl der Opfer? Zwar sieht die Haager Landkriegsordnung keine diesbezügliche Festlegung vor. Artikel 50 der Anlage zum Abkommen bestimmt aber, daß Sanktionen für die Taten einzelner nur gegen die Bevölkerung verhängt werden dürfen, soweit sie als mitverantwortlich angesehen werden kann. Dies aber war offensichtlich bei den 335 Männern nicht der Fall. Trugen etwa die 73 Juden, weil sie Juden waren, eine moralische Mitverantwortung für die Tat? Schon die rechtswidrige Auswahl der Repressalopfer ist ein Indiz dafür, daß die Quote rechtswidrig gewesen ist.

Die Sühnemethoden der Wehrmacht in der Sowjetunion, in Serbien und Griechenland mit den Quotenschlüsseln 1:100 oder 1:50 stießen spätestens Ende 1943 an eine Grenze, als erkannt wurde, daß derartiges Unrecht „kontraproduktiv“ wirken mußte und wirkte. Mit OKW-Befehl vom 22.12. 1943 wurden deshalb die festen Sühnequoten abgeschafft und verboten, willkürlich Sühneopfer auszuwählen. Zuvor schon hatte der Chef des Generalstabes der Heeresgruppe E am 9.12. 1943 festgestellt, daß bei Terroranschlägen „nur Banditenhelfer und nachgewiesen kommunistisch eingestellte Personen“ zu Sühnemaßnahmen heranzuziehen seien.

„Banditenhelfer“, also mittelbar am Anschlag Beteiligte, sind in den Fosse Ardeatine nicht den Genickschüssen zum Opfer gefallen. Es waren Schuldlose.

Das Statut des Internationalen Militärtribunals in Nürnberg hat die Exekution von Geiseln als Kriegsverbrechen gewertet, die Extermination von Bevölkerungen aus rassischen Gründen dagegen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ob Kappler und Priebke bei der Auswahl der jüdischen Opfer mit entsprechendem Vorsatz gehandelt haben, hat das römische Gericht offenbar nicht festgestellt, weil auch die Anklage nicht darauf abgezielt hatte. Sollte denn überhaupt zwischen den allesamt willkürlich ausgewählten Opfern differenziert werden?

Unverständlich bleibt angesichts der Feststellungen des Gerichts zur Beteiligung Priebkes die Annahme mildernder Umstände. Ob dies weise war, ist zu bezweifeln, gerecht war es gewiß nicht. Vielleicht ist der Fall Priebke deshalb zu einem Fall Militärjustiz geworden. Vergessen wir aber nicht, daß auch der Ankläger Militärjurist ist – und der sieht den Fall anders als das Gericht. Bei ihm und vielen anderen ist es nicht „Sühnehunger“, der gestillt sein will, sondern der Wille, ein dem Sachverhalt angemessenes Urteil gefällt zu sehen. Manfred Messerschmidt