■ Nebensachen aus Kairo
: Volkszähler mit bösem Blick

Vater Staat zählt seine Schäfchen. Schon im hausnumerierten, computerregistrierten und amtshörigen Norden kein einfaches Unterfangen. Was aber in einem Land wie Ägypten, in dem die Postadresse mitunter lautet: „Zweite Tür hinter der Apotheke in der Straße gegenüber der Soundso-Moschee“?

In den letzten Jahren haben sich zahllose ungeplante Viertel in die Wüste oder in das fruchtbare Ackerland rund um die Hauptstadt Kairo gefressen. Wer in diesem Wirrwarr aus illegalen Behausungen zu Dutzenden auf kleinstem Wohnraum lebt und arbeitet, weiß keiner so genau, am wenigsten der Staat. Mit diesem peinlichen behördlichen Unwissen soll nun Schluß sein. Der zwölfte ägyptische Zensus steht an. Alle zehn Jahre versucht der Staat erneut, seine Unwissenheit zu beheben.

Gott sei mit dir – o du Volkszähler. Hunderttausend deiner Art haben sich bereits an ihre undankbare Arbeit gemacht. Im letzten Monat begann das Heer der Aufzeichner auszuschwärmen. In einer ersten Phase sollten sie zunächst das wild wuchernde Straßennetz erkunden. Nun streifen sie in einer zweiten Phase durchs Land. Vom einfachen Haus, Bürogebäude, Flüchtlingslager bis hin zu den inoffiziellen Behausungen oder gar den bewohnten Grabstätten der alten Friedhöfe, nichts soll ihren registrierenden Augen entgehen.

Am 17. November wird dann die Klimax erreicht – Volkszähler werden vermeintlich an jede Tür klopfen... „Friede sei mit dir, ich bin der örtliche Volkszähler, darf ich Ihnen einige Fragen stellen...?“

Selbstredend kamen das erste Mal die nördlichen Kolonialherren auf die Idee, das Volk am Nil in Zahlen zu fassen. „Moderne heißt genaueres Wissen über seine Untertanen“, dachten schon die Beamten, die Napoleon bei seiner Ägyptenexpedition Ende des 18. Jahrhunderts begleiteten. Der französische General Minu trug dem „Rat der Scheichs“ in Kairo den Befehl von General Bonaparte vor, laut dem fortan alle Geburten und Todesfälle genau aufgezeichnet werden mußten.

Es sollte noch weitere hundert Jahre dauern, bis diesmal die Engländer zur ersten umfassenden Volkszählung ausholten. Dabei hatten sie es allerdings zumindest quantitativ einfacher als ihre heutigen Kollegen. Im Jahre 1897 kamen sie auf ganze 2,5 Millionen ÄgypterInnen. Heute leben allein in Kairo schätzungsweise 14 Millionen. Nur 5,5 Prozent des weitgehend unfruchtbaren Wüstenlandes sind bewohnbar. Das entspricht etwa 55.000 Quadratkilometern. Auf dieser Fläche, etwas größer als Niedersachsen, aber schon kleiner als Bayern, drängen sich heute schätzungsweise 60 Millionen Menschen.

Die werden sich nicht ohne Widrigkeiten registrieren lassen. Sicherlich wird es am Nil keine Bewegung zum Volkszählungsboykott zwecks Datenschutz geben. Doch Schwierigkeiten mit der Korrektheit der Angaben schließt Mustafa Gaafar von der zuständigen „Zentralagentur für Mobilisierung der Öffentlichkeit und Statistik“ nicht aus. Da ist zum Beispiel die Angst vor dem bösen Blick. Viele gesunde Kinder bedeuten Wohlstand und könnten den Neid des Volkszählers und damit den bösen Blick auf eine Familie ziehen. Da ist es dann doch besser, etwas moderatere Familienzahlen anzugeben.

Möglich ist auch das Gegenteil: daß sich eine Familie von einer übertrieben angegebenen Kinderzahl mehr Subventionen erhofft. Wer kann das in diesem großen Durcheinander jemals überprüfen? Bleibt die Hoffnung, daß sich die Fehler am Ende doch noch ausgleichen werden. Auch die profane Angst vor Steuern mag für zusätzliche Zurückhaltung sorgen. Zwar hat der Staat garantiert, daß die Daten geheim bleiben, aber wer traut dem schon. Datenschutz ist bisher am Nil eher ein Fremdwort geblieben.

Und was wird an Veränderungen seit dem letzten Zensus vor einem Jahrzehnt erwartet? Zwölf Millionen mehr ÄgypterInnen, aber eine geringere Bevölkerungszuwachsrate als vor zehn Jahren, ein leichter Rückgang der Analphabetenrate, weniger langfristige Arbeitsstellen und mehr Arbeitslose. Aber Abschließendes werden wir erst in zwei Jahren erfahren. So lange dauert es nämlich, bis die Zählung abgeschlossen, ausgewertet, abgesegnet und veröffentlicht sein wird. Die taz – so Gott will, daß sie dann noch existiert – wird berichten. Karim El-Gawhary