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Aids zwischen Alltag und Modul

Patienten verlangen mehr als nur häusliche oder medizinische Versorgung von den Pflegekassen. Gerrit Brillen und sein Pfleger sind auf der Suche nach der Lebensnähe von Vergütungseinheiten  ■ Constanze von Bullion

Ein Ruck geht durch den athletischen Körper. Dann springt er, schnappt sich die runden Holzgriffe, schwingt sich auf das Lederpferd, wirbelt die Beine, kreiselt blitzschnell um die eigene Achse und landet in hohem Bogen wieder auf der Matte. Tosender Applaus für den Turner in der Olympiahalle. Vor seinem Fernseher in Berlin lehnt Gerrit Brillen sich zurück. Den Wettkampf der Jungs an Reck und Ringen verfolgt er vom Bett aus. Weil seine linke Körperhälfte gelähmt ist, kann der 28jährige mit den kupferroten Haaren nicht mehr allein aufstehen. Die Folgen einer HIV-Infektion machen ihn zum Pflegefall.

Mehr als dreitausend Aids-Fälle hat das Robert-Koch-Institut im ersten Quartal 1996 in Berlin gezählt. Nicht mitgerechnet sind die Leute, die zwar HIV-positiv, aber nicht krank sind. Auf den Listen der Virusforscher führt die Metropole mit weitem Abstand vor München, Hamburg oder Frankfurt am Main. Zahlen, die mehr verbergen als verraten vom Leben mit Krankheit oder Tod, von Solidarität oder Hoffnung auf neue Medikamente. Hinter der Statistik steht der Alltag in den HIV-Projekten der bankrotten Hauptstadt, denen jetzt ein neuer Stein in den Weg rollt: Als letztes Bundesland führt Berlin die Abrechnungsreform der Pflegeversicherung ein.

Module heißen die Vergütungseinheiten, mit denen die Krankenpflege künftig ihre Arbeit dokumentieren muß. Zähneputzen und Rasieren, Einkaufen und Nägelschneiden – für jeden Handgriff wird es eine Nummer und ein festes Honorar geben – egal, wieviel Zeit das in Anspruch nehmen wird. Die Pflegekassen, so AOK- Sprecherin Gabriele Rähse, hoffen auf „transparentere Abrechnungen und Qualitätssicherung“. „Ein irrer bürokratischer Aufwand, das geht alles von der Pflegezeit ab“, befürchtet Achim Weber vom ambulanten Pflegedienst Ad hoc. Der gemeinnützige Verein am Kreuzberger Chamissoplatz versorgt ausschließlich an Aids erkrankte PatientInnen.

Zweimal täglich fährt eine Helferin oder ein Helfer zu Gerrit Brillen. Ein Foto aus besseren Tagen hängt bei ihm gleich neben der Haustür: Gerrit mit Liebhaber beim Flirt im Café. Küßchen vom Lover gibt's auch für den Postkarten-Adonis auf dem Wohnzimmerregal, das zwischen dem Bett und einem Infusionsgerät eingekeilt ist. Vier der Bücherborde sind schon belegt: von den bunten Pillenschachteln, den Flaschen mit Desinfektionsmitteln, den Tüten mit Tupfern. Daneben stehen Reiseführer und Bildbände über Architektur. Eine Studentenbude ist zum Krankenzimmer umfunktioniert worden.

Für Kunstgeschichte an der Freien Universität schrieb Gerrit Brillen sich ein, als er vor sechs Jahren nach Berlin zog. „Wenn du frei bist, gehst du hierher“, hatte er bei einer Klassenfahrt beschlossen. Frei sein, das hieß: weg vom behüteten Elternhaus, von der öden Fußgängerzone in Mühlheim an der Ruhr und weg von der Schule, die im gleichen Jahr eine Aids- Woche veranstaltete. „Das war irgendwie weit weg, in Amerika. Eine Sache, an die ich erst gar keinen Gedanken verschwendet habe.“

Offen schwul war Gerrit Brillen da noch nicht. Gay Pride, homosexuelles Selbstbewußtsein, brachte ihm sein erster Liebhaber dann erst langsam bei. „Aber das richtig schwule Leben“, erzählt er, „das kam später.“ In Berlin, als er in der Schöneberger Goltzstraße wohnte, direkt über dem „Café M“ und mittendrin in der Szene.

Die Tage gehörten von jetzt an der Kunstgeschichte, den Seminaren über Schinkel und gotische Kirchen. In den Nächten tobte Gerrit durchs Homo-Mekka zwischen Nollendorfplatz und Fuggerstraße, wo man sich im „Hafen“ oder in „Tom's Bar“ trifft und später ins „Pool“ oder zum „Connection“ weiterzieht. Was jeder x-beliebige Student über seine ersten Jahre in Berlin erzählen könnte, heißt bei Gerrit Brillen „die Zeit davor“.

Die Zeit danach fing mit einer Hepatitis A an. „Uups, es ist passiert“, schoß es dem 25jährigen durch den Kopf, als der HIV-Test positiv war. Keine Panik, kein Theater. Nur der kurze, heiße Schreck, der einen überfällt, wenn ein verdammt unangenehmer Bekannter plötzlich um die Ecke biegt. „Recht cool“ und „eher tröstend“ hat auch Gerrits damaliger Freund reagiert.

Die Fetzen flogen bei einem Gespräch mit seiner Mutter. „In den Kreisen, wo du dich bewegst, da mußte das ja passieren“, knallte sie ihm vor den Latz. Vorwürfe macht Gerrit ihr nicht mehr. Obwohl es für ihn „nicht so der Bringer“ ist, daß Muttern sich jedesmal in Tränen auflöst, sobald er auftaucht. Zweimal im Jahr tritt er die Reise zu den Eltern an – im Rollstuhl. Seit die Immunschwäche eine Toxoplasmose provozierte, ist er halbseitig gelähmt. Wut darüber, was passiert ist? Gerrit kostet es nicht viel, von seiner „eigenen Blödheit“ zu reden, wenn es um die Ansteckung geht. Für Selbstmitleid hat er wenig übrig. „Eigentlich ist das für Gerrit kein wichtiges Thema mehr“, erzählt Andreas Zordick. Der diplomierte Krankenpfleger sitzt im Wohnzimmer und füllt ein Formular aus. Im Alltag mit dem Virus geht es weniger um das Warum als um das Wie. Jeden Tag kommt der Pfleger diese Woche, weckt Gerrit und wäscht ihn, zieht ihn an und macht Frühstück. Grundpflege heißen die Leistungen, für die die Pflegekasse aufkommt. Teilweise zumindest.

„Unsere Einnahmen gehen kontinuierlich zurück, seit die Pflegeversicherung eingeführt wurde“, sagt Achim Weber von Ad hoc. „Mit den neuen Abrechnungseinheiten lassen sich qualifizierte Pfleger für schwerstkranke Patienten auf Dauer nicht finanzieren.“ Und was die Pflegekasse nicht übernimmt, muß der Patient jetzt selbst bezahlen – oder das Sozialamt.

Daß Gerrit Brillen von seiner Familie unterstützt werden kann, ist ein Glücksfall. Nichts Besonderes ist dagegen, daß die Eltern die Pflege nicht selbst übernehmen können. „70 Prozent unserer Patienten sind schwule Männer mit recht spärlichem Kontakt zur Familie. Die anderen Patienten sind ehemalige Drogenkonsumenten“, erzählt der Ad-hoc-Projektleiter. „Nur selten gibt es ein soziales Umfeld, das die Betreuung übernehmen könnte.“ Damit fällt für Aids-Patienten ein zentraler Vorteil der Pflegeversicherung flach: zu Hause betreut zu werden von Angehörigen, die Geld dafür bekommen. Kommt statt dessen ein Pfleger, reicht die knapp bemessene Zeit bei weitem nicht aus.

Denn was Andreas Zordick bei Gerrit Brillen übernimmt, ist sehr viel mehr als „Satt-und- sauber-Pflege“. Psychosoziale Betreuung gehört ebenso zu seinen Aufgaben wie die Behandlungspflege: Blutabnahme und Spritzen, Infusionen oder sogar künstliche Ernährung. Daß er bei solchen Tätigkeiten „immer irgendwie im juristischen Grenzbereich“ laviert, weiß der 23jährige mit den abgeschnittenen Jeanshosen genau. Doch auch wenn er „manchmal ein bißchen Schiß“ hat: Zur Arbeit geht er gern. Das war nicht immer so.

Was dazugehört, Menschen bis zu ihrem Tod zu begleiten, hat Andreas Zordick bei katholischen Nonnen abgeschaut, die ihm die Krankenpflege beigebracht haben. Beruflicher Aha-Effekt für den jungen Mann, der gerade die Tagebücher der Heiligen Bernadette gelesen hat: ein Job in der Geriatrie eines städtischen Krankenhauses. Die routinemäßige Massenabfertigung von „Final-Patienten“ war für ihn ein „traumatisches Erlebnis“. Nachdem sein Freund an Aids gestorben war, entschied er sich für professionelle HIV- Betreuung.

Als „ambulantes Hospiz“ versteht Andreas den Pflegedienst Ad hoc. Auch wenn seine Arbeit neben Sterbebegleitung noch aus tausend anderen Aufgaben besteht. Weil Gerrits Freundeskreis „ziemlich geschrumpft“ ist, ersetzt Andreas den Draht zur Welt. Er ruft den Arzt an und bestellt Medikamente in der Apotheke oder steht Gerrit bei, wenn der medizinische Dienst der Kasse auftaucht, um mal wieder ein Gutachten über die Gesundheit des Patienten zu erstellen. „Wie ein Verhör läuft das“, findet der Pfleger. Die mehr oder weniger sinnigen Fragen lauten etwa: „Wie viele Minuten brauchen Sie zum Haarekämmen?“ – „Können Sie vormachen, wie Sie die Ohren putzen?“ oder „Haben Sie Gemütsschwankungen?“

Klar hat Gerrit Brillen die. Nachts, wenn er nicht schlafen kann. Aber auch tags kommen die Depressionen. Die versucht Andreas mit Düften oder Musik zu vertreiben. „Oft hilft es, jemanden in den Arm zu nehmen, Füße zu kneten oder die Hand zu halten.“ Manchmal redet er mit Gerrit über die Angst. Über Abschiede von Freunden oder den Verlust von Schönheit. „Es wäre toll, wenn nach dem Tod was anderes wäre als nichts“, sagt Gerrit, der „neugierig drauf“ ist, was kommen wird. Vor dem Sterben fürchtet er sich weniger als davor, „irgendwann ganz allein zwischen Infusionsschläuchen und piepsenden Geräten“ zu sein.

Allein wird er nicht sein, soviel steht fest. Weil er für Andreas „nicht ein Patient, sondern eben Gerrit“ bleibt. Und weil auch die übrigen BetreuerInnen von Ad hoc bald nur noch eine Tür entfernt sitzen werden: Neben ihrem Büro am Chamissoplatz haben sie eine rollstuhlgerechte Wohnung eingerichtet, in die Gerrit Brillen demnächst einziehen wird. Damit er mittendrin bleibt im Leben.

Spendenkonto: Ad hoc e.V.,

Bank für Sozialwirtschaft,

BLZ 10020500 Konto-Nr.

3151700, Stichwort:

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