Das Böse ist immer und überall

„Aktenzeichen: XY...ungelöst“, die 288ste – deutsche Realität im designfreien Raum (20.15 Uhr, ZDF)  ■ Von Heidi Scheuerle

Mädchen steigen zu fremden Männern ins Auto, gutgläubige Witwen öffnen Unbekannten die Tür, beide Fälle nehmen ein katastrophales Ende. Und als beständigster Topos hält sich der Banküberfall. „Aktenzeichen: XY... ungelöst“ schauen hilft Illusionen abbauen, zeigt soziale, politische und ökonomische Zustände so klar, wie es nur geht, und das beste daran: völlig unintendiert und in quasi designfreiem Raum.

Wie aus Geschädigten Opfer werden

An weniger Gutem wäre da der immense Einfluß zu nennen, den Eduard Zimmermann, seine Tochter Sabine, Konrad Toenz und Peter Niedetzky auf die Ängste der Deutschen haben, denn „Aktenzeichen“ hat eine beachtliche Präsenz im kollektiven Bewußtsein der FernsehzuschauerInnen, was die durchschnittliche Einschaltquote von 26 Prozent belegt.

Es ist wohl nicht übertrieben, den massiven Rückgang des Trampens, einer eigentlich schnellen, flexiblen, ökologischen und billigen Fortbewegungsweise, auf „XYs“ Panikmache zurückzuführen. Steige ich (weiblich, 26 Jahre) als Anhalterin ins Auto eines fremden Fahreres, stellt er mir quasi rituell die Frage, ob ich denn nicht um die Gefahren meines Tuns wisse. Da diese Ängste zudem ein nachfrageförderndes Mittel sind, wird „XY“ von Burgwächter und dessen Sicherheitssystemen gesponsert.

Dank „Aktenzeichen“ bekommt auch die Spitzel- und Spannermentalität plötzlich einen guten Namen, denn sie bringt absolut entscheidende Zeugenaussagen hervor. Oft genug entdeckt ein Spaziergänger ein Auto, das nicht in die Straße paßt, und notiert sofort dessen Kennzeichen. Leute, die irgendwie verdächtig aussehen, können von solchen Passanten oft noch Monate danach phantombildgenau beschrieben werden. An jeder Straßenecke lauert das Verbrechen in Gestalt von Männern südländischen Typs. „XY“ ist ein einzigartiger Anachronismus und gleichzeitig das Aktuellste, was das deutsche Fernsehen zu bieten hat. Die Wirklichkeit in den Einbauküchen und auf den Couchgarnituren der Reihen- und Einfamilienhäuser der Vororte ist ja bei weitem nicht so chic, wie Film und Fernsehen überwiegend suggerieren, und doch finden hier gelegentlich höchst mysteriöse Verbrechen statt.

Dabei ist die Grundidee recht simpel: Es gibt zwei, drei wichtige staatstragende Werte, die von skrupellosen Verbrechern meist ausländischer Herkunft rücksichtslos zunichte gemacht werden. Diese Ideale sind die intakte Kleinfamilie und das persönliche oder gemeinschaftliche Eigentum. Außerdem werden Rechtschaffenheit und Fleiß stets groß geschrieben.

Erst diese Eigenschaften machen aus einem Geschädigten ein wahrhaft bemitleidenswertes Opfer.

„Ruf an, wenn du später heimkommst“

Sofern sich Ausländer als bienenfleißige Bahnangestellte auf bedrohte Geldsäcke werfen, die ihnen nicht gehören, haben auch sie gute Chancen darauf, den Gutes- Opfer-Status zu erlangen.

Auch ein „Mädchen“ (und das sind Frauen bis, sagen wir, 28; nur wenn sie Glück haben, bekommen sie die Bezeichung „junge Frauen“ – Jungs sind dagegen ab 16 „junge Männer“) ist nur dann ein würdiges Vergewaltigungs- und/oder Mordopfer, wenn sie sich vorher sehr herzlich von Eltern und Freund verabschiedet hat („Paß auf dich auf“ – „Weißt du doch, Mammi“ – „Und ruf an, wenn du dich verspätest“ – „Ja, klar doch“), ihnen den ungefähren Zeitpunkt ihrer Rückkehr mitgeteilt hat und dann zu ihrer Arbeitsstelle (wo sie immer als zuverlässige und liebenswerte Kollegin gilt) oder ihrer harmlosen Freizeitbeschäftigung enteilt ist (am besten: Discothek mit der besten Freundin). Dort führt sie dann Gespräche wie „Das war aber wieder ein toller Abend“ – „Ja, echt dufte“, verpaßt danach aber den letzten Bus, was – wie wir ahnen – in die Katastrophe führt. Pilzsammler werden sie in den nächsten Tagen finden.

Nun agiert der starke Arm des Eduard Zimmermann, der das schamlose Verbrechen mit Hilfe der Aufnahmestudios aufklären wird. Wir sehen das Bild des sympathischen Opfers vor einem Hintergrund aus Holzfurnier. Wir erfahren, welche Gegenstände noch immer fehlen (die Handtasche, die Strümpfe, der Regenschirm mit Riß), und wenn wir Glück haben, wird uns noch ein Phantombild von einem Mann gezeigt, in dessen Auto mit zerkratztem Kennzeichen das „Mädchen“ selbstmörderischerweise gestiegen ist, bevor die höchst altmodische Wischblende das Unsagbare überdeckt.

Entscheidend für das Verständnis von „Aktenzeichen: XY... ungelöst“ ist aber das Eigentumsdelikt, das zeitlich den größten Raum der Sendung einnimmt.

Dabei wird vorwiegend überfallen, was Geld hat, also: die Banken und die Reichen, wenngleich nicht allzu reich, schließlich ist „XY“ eine Sendung des Mittelstands. Der Witwe, deren verstorbener Mann ein Reinigungsunternehmen besaß, entwenden Verbrecher mit Sturmhaube die ganz gewiß versicherten Wandteppiche, den ebenso versicherten Familienschmuck (aus 585er Gelbgold) und das überall versteckte Bargeld. Gut, sie wird „diesen Tag nie mehr vergessen“, aber das lag vor allem daran, daß sie das Versteck des Tresors erst nach etwas brutalem Zureden (jugoslawischer Akzent!) preisgegeben hat.

Die Täter kommen gern aus Jugoslawien

Ach ja, Jugoslawien: Nirgendwo sonst hört man so oft die Worte „Jugoslawien“ und „jugoslawisch“, auch wenn sich ein verschämtes „Ex-“ davorgemogelt hat, das aber, weiß Gott, nichts daran ändert, daß Jugoslawiens Hauptexportgut nach wie vor der düster aussehende Verbrecher ist. Der ausländische Akzent gehört vor allem in den sogenannten „Personenfahndungen“ neben der ungefähren Alters- und Größenangabe zur Standardtäterbeschreibung; selbst Täter, die nie jemand reden gehört haben kann, sprechen in den Filmbeiträgen irgendwie südosteuropäisch. Beliebt ist auch der (Kosovo-)Albaner, der vorwiegend auf Namen wie Yusuf Kastrati und Rromeo Kushta hört – und spätestens an dieser Stelle dürfte jedem klar sein, daß es sich hier nicht um ein getreues Abbild unserer Gesellschaft und ihrer Verbrecher und Opfer handelt, sondern daß hier vielmehr ein Angstbild entwickelt wird, das den EigenheimbesitzerInnen und AsylkompromißbefürworterInnen durchaus entspricht. Und insofern spiegelt es natürlich schon Realität.

Die ausgesetzten Belohnungen sind mehr als dürftig. Peter Niedetzky etwa verspricht aus seinem Aufnahmestudio in Wien, in dessen Hintergrund schnauzbärtige Beamte mit geschmacklosen Krawatten vergeblich Geschäftigkeit simulieren, 15.000 Schilling für einen gewerbsmäßigen Betrüger.

8.000 Franken für einen Mörder

Konrad Toenz, aus Zürich zugeschaltet und von an altmodischen Kugelschreibern und sinnlos Telefonhörer drehenden Polizisten eingerahmt, bietet lediglich 8.000 Schweizer Franken für einen Mörder, was aber ein Vermögen ist gegen die 1.000 Mark, die Zimmermann von der Zentrale mit den auffällig installierten Tischmikrofonen aus für die Ergreifung eines Totschlägers offeriert. In der Belohnungsfrage zeigt sich denn auch, daß eigentlich kein qualitativer Unterschied zwischen Eigentums- und Gewaltdelikten besteht: Eine Vergewaltigung und ein Banküberfall ziehen ähnliche Summen nach sich.