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■ Südkoreanische Studenten demonstrierten militant für die Wiedervereinigung mit dem Norden. Ein gefährliches ZielGetrennt im Namen der Demokratie

Straßenschlachten wie in einem Bürgerkrieg. Molotowcocktails und Tränengas, Wasserwerfer und Hubschrauber, die im Tiefflug über die Demonstranten sausen. Nach tagelanger Belagerung zahllose Verletzte auf beiden Seiten und mehrere tausend inhaftierte Studenten, die in engen Pferchen auf dem Boden hocken, die Hände im Nacken verschränkt und den Rücken nach vorne gebeugt. Und das Ganze im Namen der Wiedervereinigung der koreanischen Halbinsel.

Diese Bilder waren in ihrer Vertrautheit um so schockierender, weil der Einsatzbefehl zum Sturm der Yonsei Universität in Seoul ausgerechnet von einem Politiker gegeben wurde, der für seinen couragierten Einsatz für demokratische Reformen die brutale Repressionsmaschine der früheren Militärdiktaturen am eigenen Leib erlebt hatte.

Daß sich zwei der prominentesten Chefs der erst 1989 abgetretenen fanatisch antikommunistischen Militärjunta ausgerechnet in diesen Tagen für ein anderes Studentenmassaker, diesmal in Kwangju vor über 15 Jahren, verantworten müssen, machte die Entscheidung für Südkoreas ersten demokratisch gewählten Präsidenten nur noch pikanter.

Kim Young Sam, erklärten seine Gegner denn auch schnell, sei wie alle seine Vorgänger den Verführungen der Macht erlegen. Sein Angriffsbefehl in den Morgenstunden des vergangenen Dienstag habe die zarten Triebe der südkoreanischen Demokratie unter den Absätzen der Ordnungskräfte – vielleicht sogar endgültig – zermalmt. Doch solche rhetorischen Breitseiten gehen am Kern des Problems vorbei. Denn die Ereignisse in Seoul sind ohne die Entwicklungen in Pjöngjang nicht zu begreifen.

Beiden, dem reichen kapitalistischen Süden auf seinem rauhen Weg zur Demokratie und der ausgepowerten kommunistischen Diktatur im Norden in ihrem hoffnungslosen Überlebenskampf, diktiert die oft schon an Hysterie grenzende gegenseitige Feindschaft die politischen Entscheidungen.

Offiziell streben beide die Wiedervereinigung der seit dem Zweiten Weltkrieg geteilten Halbinsel an. Im Norden hat die Partei dieses Ziel ihren Bürgern seit über vier Jahrzehnten ohne Unterlaß eingebleut. Erstaunlicher ist die Kraft des Vereinigungswunsches im Süden, der trotz der bitteren Erfahrungen des Koreakrieges, unterschiedlicher Systeme und der gewaltigen Wohlstandskluft über all die Jahre kaum geringer geworden ist. Doch seit dem Fall der Berliner Mauer und auf der Grundlage der deutschen Erfahrungswerte weiß man in Seoul, daß Südkorea sich dieses Ziel nur zu einem selbstmörderischen Preis würde leisten können.

Nach einer in den hintersten Winkel der geheimsten Schublade des zuständigen Ministeriums verbannten Studie würde Südkorea innerhalb weniger Monate unter den wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Vereinigung zusammenbrechen.

Da sich dieses Szenario fast lückenlos mit dem offen erklärten Traum der nordkoreanischen Diktatur deckt, gilt in Seoul jeder Versuch, die Wiedervereinigung über den Druck von der Straße zu forcieren, als Propagandaaktion einer fünften, von Nordkorea gesteuerten Kolonne und damit als Hochverrat.

Präsident Kim Young Sam hat die rebellischen Studenten, die für eine Wiedervereinigung demonstrierten, als von Pjöngjang gesteuerte Stadtguerilla tituliert, der Bewegung insgesamt mit „Ausrottung“ und ihren Anführern mit schweren Strafen gedroht.

Anlaß zur Unruhe gibt es in Seoul momentan mehr als genug. Die Zahl der Deserteure aus dem Norden wächst stetig. Und selbst wenn man die notorischen Übertreibungen der südkoreanischen Propaganda berücksichtigt, sagen diese Überläufer im Kern doch alle das gleiche: Seit Pjöngjang die konkrete Hilfe der Sowjetunion verlor und Peking seine praktische ideologische Solidarität von Barzahlung in US-Dollars abhängig macht, stehen in Nordkorea alle Zeichen auf Sturm.

Kim Jong Il hat die offizielle Nachfolge seines vor zwei Jahren verstorbenen Vaters noch immer nicht angetreten. Im zweiten aufeinanderfolgenden Jahr droht eine katastrophale Mißernte. Selbst in der relativ gut versorgten Hauptstadt suchen Menschen in den öffentlichen Parks nach eßbaren Gräsern und Wurzeln. Nicht zuletzt weil man die Armee nicht füttern will, reagiert die Welt auf die nordkoreanischen Hilfsappelle nur zögernd.

Alle Anzeichen deuten zwar darauf hin, daß Pjöngjangs gewaltige Militärmaschine im Ernstfall wohl schon am dritten Tag mit leeren Tanks steckenbliebe. Doch auf solche Prognosen mag sich verständlicherweise niemand verlassen. Seoul liegt innerhalb der Schußweite des nordkoreanischen Artilleriegürtels dicht hinter der entmilitarisierten Zone.

Daß all dies höchstens eine Erklärung, keinesfalls jedoch eine Rechtfertigung für die Brutalität sein kann, mit der Seoul auf die gewalttätigen Provokationen der linken Studenten antwortete, hat die Regierung nicht nur aus dem Ausland zu hören bekommen. Mit asiatischer Zurückhaltung und damit weitgehend unter Ausschluß der internationalen Öffentlichkeit hat in Südkorea eine intensive Diskussion über die Ereignisse der letzten zwei Wochen begonnen.

Solidarität aus der Bevölkerung erfuhren die südkoreanischen Studenten, als sie gegen die Diktatur der von den USA gestützten Militärs und für demokratische Reformen auf die Straße gingen. Der gemeinsame Druck zwang das Regime Ende der achtziger Jahre zu einer graduellen Übergabe der politischen Macht an die zivile Opposition.

Und auch als es darum ging, die korrupten Beziehungen zwischen den ehemaligen Diktatoren und den südkoreanischen Familienkonzernen offenzulegen, zogen die Studenten und die Mehrheit der Bevölkerung an einem Strang.

Daß die krisenerprobte Allianz schließlich an den unrealistischen Forderungen der radikalen Studenten nach sofortiger Wiedervereinigung und ihrer Bereitschaft zu hemmungsloser Gewalt zerbrach, zeugt von der erstaunlichen politischen Reife und Urteilskraft einer Gesellschaft, die in den komplizierten Prozessen praktischer Demokratie so gut wie keine Erfahrungen hat.

Anders als die Politiker, die Militärs und die radikalen Studenten, die noch immer in den alten Spielregeln von Gewalt und Gegengewalt als Norm der sozialen Auseinandersetzung verhaftet sind, hat sich die Mehrheit der Südkoreaner eindeutig gegen extreme Experimente und für den Ausbau einer jungen Demokratie entschieden. Johannes von Dohnanyi

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