piwik no script img

Den guten Draht nach draußen suchen

AK Ochsenzoll mit stadtteilnaher Hilfe für psychisch Kranke auf neuen Wegen  ■ Von Patricia Faller

„Egal, mit wem man trommelt, alle sind gut drauf. Trommeln bei schönem Wetter im Park – da kommen gleich viele Leute zusammen. Der Rhythmus zieht sie an.“ Andreas Schmidt (Name geändert) gerät ins Schwärmen, wenn er von seiner „Djembé“ – seiner afrikanischen Trommel – erzählt. Das Kommunikative des Instruments betont auch seine Trommelgruppe im Allgemeinen Krankenhaus Ochsenzoll (AKO), das in der allgemeinen Psychiatrie neue Wege wagt. Der 23jährige Patient führt ein Zwiegespräch mit einem anderen: Sie lassen die Trommeln sprechen.

Das Solo erfordert den Mut, sich abzuheben vom Rhythmus der Gruppe: Wie klingt denn das? Bin ich gut genug? Sind die Bedenken überwunden, haben die PatientInnen Spaß, werden experimentierfreudig, trauen sich immer mehr zu.

Andreas Schmidt trommelt aus Spaß und zur Entspannung – Entspannung vom „Schnibbeldruck“. Er ist autoaggressiv. „Ich spüre einen Druck, mich selbst zu verletzen, meist wenn ich mich innerlich leer fühle.“ Mit der Rasierklinge fügt er sich Schmerzen zu, die dieses Gefühl überdecken sollen – in „schlimmen Zeiten“ hat er täglich „geschnibbelt“, seit er in psychiatrischer Behandlung ist, in neun Wochen nur zweimal. Verheimlicht hat er seine Krankheit nie, höchstens „geschönt“. „Die Katze war's“, wenn er auf die roten Striemen an seinen Unterarmen angesprochen wurde.

Diesen Zustand des inneren Vakuums kann sich der Fachschüler für Sozialpädagogik nicht erklären: „Ich habe doch alles, was man sich vorstellen kann, einen Ausbildungs- platz, meine Familie.“ Früher hatte er auch einen großen Bekanntenkreis. Doch als vor zwei Jahren seine Klinikkarriere begann, wurden es weniger. Anfangs kamen sie zu Besuch und „wollten sich mal wieder melden“. Nie wieder hat er von ihnen gehört – eine Erfahrung, die die meisten Psychiatrie-PatientInnen teilen. Einige verlieren den Arbeitsplatz oder die Wohnung wegen der längeren und wiederholten Klinikaufenthalte. Diese Entlassung ins „Nichts“ programmiert den nächsten Klinikaufenthalt vor.

Deshalb will das AKO weg von der zentralen Großklinik hin zu ambulanten Diensten, die den PatientInnen helfen sollen, sich in ihrer Umwelt zurechtzufinden, wie der Ärztliche Direktor, Klaus Böhme, erklärt. Ein erster Schritt ist die „innere Sektorisierung“. Die einzelnen Abteilungen werden Bezirken zugeordnet, in die sie in naher oder ferner Zukunft ausgelagert werden könnten. Bis es soweit ist, kommen die 6000 PatientInnen, die pro Jahr aufgenommen werden, zwar noch in die Großklinik nach Ochsenzoll, psychisch Kranke aus Wandsbek aber alle in die gleiche Abteilung. Das hat den Vorteil, daß PatientInnen immer von den gleichen Ärzten betreut werden, so Böhme. Klinik und externe Beratungsstellen können enger zusammenarbeiten für eine bessere Reintegration.

So lange die ambulante Psychiatrie noch nicht verwirklicht ist, kommt der Freizeitpädagogik als Teil der Sozialpsychiatrie des AKO eine wichtige Bedeutung zu. Die psychisch kranken Menschen sollen auf das Leben „draußen“, wie die Welt der „Normalen“ im Gegensatz zu „drinnen“ meist genannt wird, durch Freizeitangebote und Freizeitberatung vorbereitet werden. „Freizeitgestaltung muß ebenso wieder erlernt werden, wie das Arbeiten“, erklärt der Freizeitpädagoge Horst Thalmaier. Doch nicht im Sinne verordneter Therapie, sondern auf freiwilliger Basis.

Erlebnisreiche Aktivitäten und Kontakte bezeichnen die vier FreizeitpädagogInnen des AKO als „Balsam für die Seele“. Für viele Psychiatrie-Erfahrene bedeutet Freizeit oftmals „leere Zeit“. „Mein Problem ist, daß ich 24 Stunden am Tag, 31 Tage im Monat, 365 Tage im Jahr – und das bis zu meinem Lebensende – freie Zeit habe“, beschreibt eine 25jährige Patientin, wie Muße zur Qual werden kann. Diese Leere bietet Raum für die Krankheit und verstärkt sie.

Freizeitpädagogik soll „ohne Absicht therapeutisch wirken“: besondere Erlebnisse gegen Langeweile und Angst, eigene Fähigkeiten entdecken fürs Selbstwertgefühl. Bei ihren diversen Veranstaltungen setzen die FreizeitpädagogInnen des AKO auf hochkarätige Profis, die beruflich aber nicht mit dem Bereich Psychiatrie befaßt sind, wie der Extremsportler Arved Fuchs oder der Gitarrist Rolf Jarchow. Deren Begeisterung übertrage sich auf die Kranken: „Patienten, die sonst nervös und zappelig sind, können dann auf einmal eine Stunde lang einem Gitarrenkonzert zuhören“, sagt Jörg Adler.

Ohne Absicht therapeutisch wirken bedeutet auch, die Krankheit nicht aufarbeiten zu müssen. Was damit gemeint ist, beschreibt Renate Piehorsch am Beispiel ihres Aikido-Kurses, den häufig Frauen besuchen, die sexuell mißbraucht wurden: „Diese Frauen können nicht zuschlagen. Ich provoziere sie, 'los, hau mir eine runter', statt zu sagen, 'wenn du das jetzt lernst, dann kannst du dich beim nächsten Mal wehren'.“ Allein das Training stärke das Selbstbewußtsein.

Neben Alltäglichkeiten wie Kochen oder Knöpfe Annähen, müssen psychisch Kranke wieder lernen Freizeit zu planen, sich zu Foto-, Musik- oder Theaterkursen anzumelden, ins Konzert, Theater oder ins Kino zu gehen und ihre Ängste vor anderen Menschen zu überwinden – zunächst im geschützten Rahmen des Krankenhauses, später auf Exkursionen, Theater- und Konzertbesuchen in der Welt „draußen“.

Oder Menschen von „draußen“ kommen nach Ochsenzoll, angezogen durch Kurse, die die Volkshochschule hier für Kranke und Nichtkranke anbietet, und durch die meist mit bekannten Künstlern besetzten öffentlichen Veranstaltungen. „Für die PatientInnen sind dies sehr wichtige Begegnungen“, so Thalmaier. Zu erfahren, daß man von anderen nicht so negativ betrachtet wird, wie man sich selbst sieht, ist ein tolles Erlebnis. Diese Begegnungen helfen auch, Vorurteile abzubauen. Diese Möglichkeit bietet sich beim morgigen großen Sommerfest. Menschen von „draußen“ sollen mitfeiern, sich informieren, Kultur und Kulinarisches genießen. Andreas Schmidt fiebert der Session mit seiner Rhythmusgruppe entgegen – die Leute zusammentrommeln und gut draufsein.

Im Oktober erscheint „Freizeit als Chance“, Dietrich Eck u.a., Psychiatrie-Verlag, 24,80 Mark.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen