: Begegnung der vierten Art
T. C. Boyle hat einen bitterbösen, komischen und hochpolitischen Roman über illegale Immigranten in Kalifornien geschrieben: „América“ ■ Von Reed Stillwater
Auf einmal ist es da, das Gesicht mit den dunklen Augen und dem schon angegrauten Schnurrbart, das Delaney Mossbacher in seine Träume verfolgen wird, nur kurz ist es durch die Windschutzscheibe zu sehen, bevor der Mann, von der Kühlerhaube über die Böschung geschleudert, im Gebüsch des Canyonabhangs verschwindet.
Ein Unfall kann das ganze Leben durcheinander bringen. Manchmal bringt er nur hervor, was angelegt ist, so wie ein Perspektivenwechsel in einem Gewirr von Linien eine Struktur, ein Bild sichtbar macht. So jedenfalls geschieht es in T. Coraghessan Boyles neuem Roman „América“.
Bitter und böse sind alle Romane Boyles über Amerika, bisher aber kamen sie wie absichtslos daher und schienen weder moralisieren noch belehren zu wollen. In „América“ nun prallen durch einen Unfall zwei Welten aufeinander, die sich fremder nicht sein und doch ohne einander nicht existieren könnten. Hier América und Candido Rincon, illegale Einwanderer aus Mexiko, dort das Ehepaar Kyra und Delaney Mossbacher, liberale, Umwelt- und ernährungsbewußte Angloamerikaner.
Mossbachers Leben oberhalb des Topanga Canyons in einer geschlossenen Siedlung mit Blick aufs Meer. Während Kyra jeden Morgen die Canyonstraße hinab zu ihrem Maklerbüro fährt, schreibt Delaney an seiner Kolumne über die Zauberwelt des Topanga Canyon, ein Stück naturbelassener Wildnis, das sich im geschwürgleich ausufernden Los Angeles hat erhalten können. América und Candido aber leben in diesem Canyon, tief unten in einer grünen Höhle aus Manzinita- Sträuchern, die der geringste Funke in Brand setzen kann. Sie wissen, daß sie hier nicht werden bleiben können. Sie sind ja auch nicht nach Amerika gekommen, um in einer Wildnis zu campieren, die nur solange romantisch wirkt, wie man nicht in ihr leben muß.
Bis zum Anbruch der Regenzeit hofft Candido durch Gelegenheitsarbeit soviel Geld verdient zu haben, daß er ein Haus in einer jener Straßen mieten kann, wo Palmen die Vorgärten beschatten. Deswegen steigt er allmorgendlich die Schlucht zur Straße hinauf, um sich auf dem grauen Arbeitsmarkt vor dem Postamt anzubieten. Dort wartet er darauf, daß jemand Arbeiter braucht, die für ein paar Dollar Säcke schleppen, Gräben buddeln oder mit giftigen Chemikalien hantieren.
Keep low profile, „Bloß nicht auffallen!“, lautet Candidos Devise. Und so bewegt er sich mit gesenktem Blick – nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn die „Migra“ ihn festnehmen würde, während seine schwangere América in ihrem Versteck vergeblich auf ihn wartet. Eben darum rennt er ins Auto. Und mit dem Unfall verwebt sich das Leben der beiden so unterschiedlichen Paare wie in einem seltsamen Tanz.
Amerikas großer Migrantenroman ist John Steinbecks „Früchte des Zorns“ – und man hat darum die „illegalen Immigranten“ aus Mittelamerika als die „Okies“ der neunziger Jahre bezeichnet. Der Roman von T. C. Boyle stellt sich diesem Vorbild. Er ist voller Anspielungen auf das herzzerreißende Epos, in dem Steinbeck den Exodus der verarmten Bauern aus Oklahoma nach Kalifornien beschrieb. Wie Rose of Sharon bringt América ihr Kind bei einem Unwetter zur Welt, in dem der Himmel selbst über die irdische Ungerechtigkeit zu zürnen scheint; wie die Joads finden die Rincons zur Geburtsstunde Zuflucht in einer menschenunwürdigen Bleibe, gegen die der Stall von Bethlehem eine Luxusherberge war. Vergleichbar ist auch die Erzählweise beider Autoren, die manchmal quälende Detailfreude, die den Erzählstrom aufstaut und die Spannung ins Unerträgliche steigert. Beide Autoren sind Dokumentaristen. Steinbeck hat in den dreißiger Jahren in den kalifornischen Lagern der Emigranten aus Oklahoma recherchiert. Boyle kann für jedes Detail seiner Erzählung leicht eine ganze Mappe voller Zeitungsausschnitte vorlegen.
Doch trotz der Ähnlichkeit der Themen und Methoden sind die Erzählungen so verschieden wie die Vorstellungen, die sich Steinbeck und Boyle von der Rolle des Schriftstellers in der Gesellschaft machen. Steinbeck war wie viele seiner literarischen Zeitgenossen engagierter Sozialist und ein Moralist, sein Buch ist Kampfschrift und Tragödie mit kathartischer Wirkung zugleich. Steinbeck ist damals vorgeworfen worden, sein Roman sei ihm zu einer langen Predigt geraten. Eine Predigt ist Boyles Buch weiß Gott nicht. Vor dem Moralisieren schützt ihn seine Spezialität, die bittere Situationskomik, die noch im Moment der Katastrophe zum Lachen reizt. Aber anders als in seinen bisherigen Romanen scheint Boyle diesmal Amerika die Leviten lesen zu wollen. Das stellt ihn in Steinbecks Tradition. Also eine kostümierte Predigt? Jedenfalls eine beißende Kritik an der infamen Immigrantenpolitik Kaliforniens: Der wichtigste Industriezweig des Staates, die Landwirtschaft, ist auf die billige Arbeitskraft der Illegalen angewiesen, verweigert ihnen aber seit 1994 die sozialen Leistungen – eine Politik, die Anfang August auf dem Republikanischen Parteitag in San Diego Eingang in die Partei-Plattform gefunden hat.
Steinbecks Buch traf die Nation seinerzeit wie ein Schock und provozierte eine nationale Debatte, Boyles Buch wird heute von einer wohlmeinenden Kritik aufgenommen. So wie man Steinbecks Buch die unmittelbare Begegnung mit dem Schicksal der Okies anmerkt, merkt man Boyle den distanzierten Blick des interessierten Zeitgenossen an, dessen Erfahrungen medial vermittelt sind. Die Tragödie weicht dem Kabarett.
So kann Boyles Buch auch – anders als das von Steinbeck – nicht in einer Apotheose der Menschlichkeit enden. Es kulminiert, nur soviel sei verraten, in einem Höllensturz, in dem alles, was in den letzten Monaten und Jahren in Kalifornien Schlagzeilen machte, sich zu einer grandiosen Katastrophe verdichtet.
T. Coraghessan Boyle: „América“. Aus dem Amerikanischen von Werner Richter. Carl Hanser Verlag, 384 Seiten,. geb., 45 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen