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■ Kinderpornographie ist nichts als Kindersklaverei. Was in Belgien spektakulär enthüllt wurde, könnte überall passierenDie Täter sitzen zu Hause am Video

Ein paar perverse Kriminelle, sechs kindliche Opfer und eine belgische Polizei, die schlampig gearbeitet hat: so hätte die Nachricht lauten können. Eine mit tragischem Ausgang zwar, doch mit immerhin eindeutiger Zuweisung von Gut und Böse. Aber so läßt sich die Geschichte nicht erzählen.

Im Oktober vergangenen Jahres erfuhr die belgische Gendarmerie von umfangreichen Kellerumbauten des wegen Sexualdelikten vorbestraften Marc Dutroux. Auch der Zweck der Bauarbeiten wurde der Polizei mitgeteilt: um entführte Kinder so lange gefangenzuhalten, bis sie ins Ausland verkauft würden. Der mutmaßliche Informant, ein ausgestiegener Komplize Dutroux', wurde kurz darauf ermordet.

Schon zwei Monate später, nämlich im Dezember, machte sich die Gendarmerie an eine Hausdurchsuchung bei dem arbeitslosen, doch offenbar recht vermögenden Immobilienbesitzer. Und tatsächlich stellten die Beamten umgebaute Keller fest. Zudem hörten sie Kinder weinen. Es seien seine eigenen, gab Dutroux vor. Ach so. Und Ende der Razzia.

Belgien weinte nach den Enthüllungen. Die Beerdigung geriet zur nationalen Trauerfeier. Doch war und ist dies nur ein Stück Lokalkolorit aus der belgischen Frittenbude? Ist es erhellend, über die typische Arbeitsweise der belgischen Ordnungsbehörden zu räsonieren? Mitnichten.

Die anfängliche Wut über die Skrupellosigkeit der Täter und die Tumbheit der Ermittlungsbehörden weicht mittlerweile dem Verdacht, daß der Kinderpornoring von höherer Stelle protegiert sein könnte. Verhaftet wurde mittlerweile auch ein Polizist. Parlamentsabgeordnete wollen wissen, wer Dutroux auf politischer Ebene gedeckt haben könnte.

Und damit wären wir am Kern des Problems. Denn es geht nicht bloß um ein paar Kriminelle. Es geht um einen mehrere hundert Millionen Mark schweren Kinderpornographiemarkt auch in der Bundesrepublik. Und es geht um seine Konsumenten. Jahr für Jahr jetten Tausende Sextouristen nach Asien, um sich dort wie die Fliegenschwärme über immer jüngere Kinder herzumachen. Doch solange sich die perversen Praktiken deutscher Bürger im fernen Ausland abspielen, interessiert sich die hiesige Justiz nicht dafür.

Ein Mißverständnis sei hier ausgeräumt: Pychischer Inhalt einer Perversion ist weniger, daß Geschlechtsverkehr mit oder gewalttätige Handlungen an Kindern als sexuell besonders stimulierend erlebt werden. Das Erregende ist regelmäßig die illusionäre Aufhebung der Inzest- und Generationenschranken: Anything goes ist das Wesen jeder Perversion. Und diese Illusion wird durch die Untätigkeit deutscher Justiz und Ermittlungsbehörden unterstützt.

Belgische Verhältnisse eben auch bei uns: Bisher ist in der Bundesrepublik erst in einem einzigen Fall Anklage gegen einen in flagranti erwischten Kindersextouristen erhoben worden. Glaubt jemand ernsthaft, daß jene, die in Thailand Sex mit Kindern für das Größte halten, beim Einchecken für den Heimflug mit dem Gepäck zugleich auch ihre Perversion aufgeben?

Wo bitte sollen eigentlich all jene bleiben, die es sich, nolens volens, nur ein-, zweimal im Jahr leisten können, bei dieser Freizeitaktivität ausspannen zu können? Was machen eigentlich unauffällige deutsche Kinderschänder, wenn ihr Urlaub vorbei ist?

Deshalb könnte die Empörung über belgische Kriminelle flugs in Heuchelei umkippen. Denn das Unbequeme an den Herren Dutroux & Co. ist ja, daß sie zwar offenbar auch selbst Gefallen an ihrem Tun fanden, dies aber nicht erstes Ziel ihrer Handlungen war. Sie betrieben ein Geschäft und lieferten, was der boomende europäische Kinderpornomarkt verlangt: Videos mit mißbrauchten Kindern, sadistisch-gewalttätige Darstellungen zwischen Erwachsenen und Kindern, fiktive oder tatsächliche Morde und Verstümmelungen. Ähnliches gilt für das gerade erst entstehende Internet.

Wie dem auch sei: Wer sich in Asien an Kindern vergreift, möchte dies eventuell auch hierzulande nicht missen. Daher ist es fast schon eine zweitrangige Frage, ob belgische Kinder in tschechische Bordelle entführt wurden. Denn die Tatsache organisierter Kinderprostitution steht bei Ermittlern offenbar gar nicht mehr in Zweifel. Solche Kindersklaverei setzt Gewalt gegen die Opfer nahezu zwingend voraus. Scheinheilig ist, daß das alles erst jetzt, unter dem Eindruck der Ermittlungen à la Belge, offenbar geworden sein soll. Solange jemand ein paar Längen- und Breitengrade entfernt Kinder für den Rest ihres Lebens körperlich und psychisch verstümmelt, bitte sehr, was geht uns das an?!

Nach vorsichtigen deutschen Schätzungen machen mehr als zehn Prozent aller Kinder mindestens eine sexuelle Mißbrauchs- oder Übergriffserfahrung bis zum Erwachsenwerden. In den meisten Fällen schwerer psychischer Störungen spielen Grenzverletzungen dieser Art zumindest eine Rolle. Allein mit Kinderpornos werden in Deutschland mehrere hundert Millionen umgesetzt. Seit Jahren ist dies bekannt.

Das Gruselige an der belgischen Kriminalakte ist die Leugnung, mit der die Ermittlungsbehörden ihr im Vorfeld zu begegnen trachteten. Und diese Leugnung entspricht dem kollektiven Umgang mit alltäglicher sexueller Gewalt gegenüber Kindern. Ob tatsächlich prominente belgische Politiker beteiligt sind, ist fast schon marginal. Kern der Sache ist, daß wir eine Gesellschaft heimlicher Kinderschänder und Perverser sind.

Schmerzlich – das lehren die belgischen Ereignisse – sind nicht die Dinge selbst, sondern ihr Offenbarwerden. Wir leisten uns einen Video- und Tourismusmarkt, der nur ein einziges Ziel hat: Kinder sexuell zu vermarkten. Die Täter sitzen nicht bloß in den Kellern einer kleinen belgischen Gemeinde. Sie sind mitten unter uns, als Konsumenten daheim am Bildschirm, als gebräunte Kinderficker, die sich tagtäglich auf deutschen Terminals zum Normalbürgertum zurückmelden.

Die Mörder und Entführer sitzen im Knast. Sie führten aus, was der Markt verlangt. Und dieser Markt ist in unserer Mitte. Micha Hilgers

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