piwik no script img

■ Jelzins Sicherheitsberater Alexander Lebed bilanziert offen den Ruin der russischen Politik. Eine Dokumentation„Innere Entwicklung vordringlich“

Rußland braucht dringend eine neue und ganzheitliche nationale Sicherheitspolitik. Ohne sie wird das Land auseinanderfallen. Als Sekretär des Sicherheitsrats der Russischen Föderation und Berater des Präsidenten habe ich eine Reihe neuer Gedanken und Prinzipien zu Sicherheitspolitik definiert. Ich bin der festen Ansicht, daß sie nicht nur den klassischen Begriff der militärischen Sicherheit, sondern auch den der wirtschaftlichen, ökologischen, sozialen und informatorischen umfassen müssen. Ich bin dabei zuversichtlich, die notwendigen Vollmachten zu erhalten, um diese Vorstellungen in die Tat umzusetzen und ein System zu schaffen, das elementare Ordnung in Moskau und dem Rest des Landes herstellt.

Auf ökologischem Gebiet brauchen wir ein zusammenhängendes Programm gegen die Umweltkrise in unserem Land. Die Regierung sollte deshalb alle Verantwortung für die Bewahrung und den Zustand der natürlichen Ressourcen und der Lebensbedingungen der Bevölkerung übernehmen. Derzeit ist die ökologische Situation in 13 Regionen Rußlands kritisch. Statt einer Verringerung der industriellen Verschmutzung hat der Rückgang der Produktion dazu geführt, daß eine Vielzahl von Unternehmen Umweltschutzmaßnahmen wie Abfallentsorgung als Gebiete zur Kostensenkung betrachten. Geldstrafen für umweltschädliche Betriebe müssen erhöht werden, und die Verschiffung radioaktiver oder giftiger Industrieabfälle muß sofort und für immer ein Ende finden. Viele nachfolgende Generationen von Russen werden sonst für unsere Dummheit zahlen müssen. Wir dürfen nicht zulassen, daß Rußland in die Müllkippe der Welt verwandelt wird.

Während der Jahre der Perestroika und danach rutschte Rußland von der Kommandowirtschaft eines „entwickelten Sozialismus“ vollends in eine vollständige wirtschaftliche und soziale Krise. Die Bevölkerung unseres Landes schrumpft, weil die Sterblichkeitsrate inzwischen die Geburtenrate übertrifft. Verbrechen ist endemisch. Das Entstehen einer „kriminellen Gesellschaft“ wird zu einer nationalen Sicherheitsfrage, die den Bestand Rußlands als Staat bedroht. Ohne einen effizienten Regierungsapparat kann der Kampf gegen das Verbrechen jedoch nicht gewonnen werden.

Deshalb müssen wir auch die Justiz reformieren. Sowohl das Maß der Verantwortung der Richter als auch der Schutz für sie vor den Drohungen Krimineller müssen verstärkt werden. Auch die Gerichte müssen mehr Macht erhalten, das Strafrecht verbessert und das System der Durchführung von Urteilen gestärkt werden.

Armut plagt die Russen und beraubt die meisten Kinder ihrer Kindheit. Junge Menschen haben für nichts anderes mehr einen Sinn als für die Suche nach einem Auskommen, was viele von ihnen dem Verbrechen in die Arme treibt. Andere fallen einer Jugendbewegung zum Opfer, die Drogen anpreist oder pseudomystische Lehren verbreitet, die eine Gefahr für sie selbst und die Gesellschaft sind.

Die talentierteren jungen Menschen wiederum sehnen sich nach der Möglichkeit der Ausbildung im Ausland und wollen auch später dort bleiben und ihr Leben gestalten. Die meisten älteren Russen hingegen hungern, seit ihre mageren Pensionen nicht einmal mehr ausreichen, die Miete zu zahlen und genügend Lebensmittel zu kaufen. Höhere Effizienz der Gesamtwirtschaft war während der Reformjahre nicht durch eine verbesserte Produktion, sondern nur durch eine Neuverteilung der Ressourcen und die Schließung der schwächsten Betriebe geschaffen worden. Dies kann so nicht weitergehen. Das „Abwickeln“ schwacher Firmen ist zum größten Teil beendet. Was übrigbleibt ist essentiell für unsere Wirtschaft.

Die größte und schwierigste Aufgabe der Wirtschaftspolitik ist es, eine Kraft zu finden, deren Interessen sich mit der der Gesellschaft am besten decken. Derzeit ruht die russische Wirtschaft auf zwei Säulen: dem nationalen Kapital, das mit der Produktion für den Binnenmarkt verbunden ist, und ausländisches Kapital, von dem die russische Wirtschaft abhängt wie niemals zuvor und das deshalb von eminenter Bedeutung ist.

In Rußland ist ausländisches Kapital hauptsächlich am Binnenmarkt interessiert. Deshalb sollte es die Hauptaufgabe dieses Kapitals sein, die Tiefe dieses Marktes zu vergrößern, was schlicht bedeutet, den Lebensstandard der Bevölkerung zu erhöhen. Der Zerfall der russischen Wirtschaftsstruktur ist zu weit gegangen. Da ist die Bekämpfung der Korruption – eine meiner Prioritäten – nur eine der zahlreichen Maßnahmen zur Anregung der wirtschaftlichen Erholung. Derzeit importiert Rußland mindestens 40 Prozent seiner Nahrungsmittel. Sollte diese Versorgung abgeschnitten werden, stünden wir vor ernsten Schwierigkeiten. Rußland sollte deshalb seinen Lebensmittelbedarf selbst decken, was auch das Vertrauen in die eigene Stärke verbessern würde.

Die 70 Jahre der sowjetischen Zeit bedeuteten für das russische Volk nur Blut und Schweiß. Dann kamen die Reformer. Obwohl die Menschen an sie glaubten, begann alles von neuem. Warum lassen russische Menschen ihr Leben in Tschetschenien? Vor allem deshalb, weil korrupte Individuen sich schamlos weiter die Taschen füllen wollen. Es muß absolut klar sein, daß Rußland gegenüber niemandem territoriale Ansprüche erhebt. Ebenso klar ist aber auch, daß nicht das kleinste Stückchen Land verschenkt wird. Wir wollen gegen niemanden Krieg führen. Es ist unsere innere Entwicklung, auf die wir uns jetzt konzentrieren müssen.

Auch aus den vorher genannten Gründen betrachte ich die derzeit diskutierte Osterweiterung der Nato hauptsächlich aus dem Blickwinkel des Steuerzahlers. Die nötige Infrastruktur dafür sowie die Angleichung von Waffenstandards würde nach Schätzungen 200 bis 250 Milliarden US-Dollar kosten. Sollten dafür Steuergelder ausgegeben werden? Zudem ist die Normalisierung der Beziehungen mit Rußland ein Eckpfeiler der Außenpolitik des US-Präsidenten Bill Clinton. Doch über welche normalen Beziehungen können wir noch sprechen, wenn sich die Nato ostwärts bewegt? Alexander Lebed

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen