■ Mögliche Orte
: Zu Haus ist es himmeltraurig, wenn man's genau nimmt

Eigentlich mag ich die Gegend nicht besonders. Nicht daß sie schlechter wäre als andere – wahrscheinlich ist sie sogar besser als die meisten, beispielsweise die südliche Seite der Gneisenaustraße, wo die alternativ arrivierten „Futonficker“ (Höge) zu Haus sind. Nur wohn' ich eben hier.

Kreuzberg ist mein Kiez sozusagen, und bei „Kiez“ wird mir eh schon ganz schlecht. Das ist das Problem und auch ein Kreuzberger Phänomem: Daß es also neben den Kreuzberger Patrioten nicht minder kreuzbergerische Anti-Kreuzberger gibt, zu denen ich mich mal zähle, um nicht ganz allein dazustehen.

Ich konnte die Gegenden, in denen ich wohne, noch nie leiden. Vor allem stört, wenn man irgendwo wohnt, daß man sich jeden Tag immer das Gleiche anschauen muß: Jeden Tag übt der junge Türke im Zimmer gegenüber boxen, posiert und krakeelt die Jugendbande vor dem „Videodrom“ und schlägt sich an Festtagen zum Spaß oder trampelt inbrünstig auf den Fahrrädern ihrer Feinde herum. Jeden Tag glotzt die Dicke ansteckend lebensverdrossen aus dem Fenster. Jedes Wochenende stellt der knallbunt gekleidete Rentner im Sommer seine Boxen auf den Balkon, damit alle ihm beim Fernsehen zuhören können. Auch meine Wohnungseinrichtung nervt.

Die Mieter des Hauses verbarrikadieren sich gern. Die Fenster im Treppenhaus sind auch im Sommer zu. Wegen der „Taubenplage“ ist es verboten, die Tür zum Hinterhof offen zu lassen. Ab acht Uhr abends hat die Haustür abgeschlossen zu sein, erklärte mir Bernd, der Inhaber der Eckkneipe „Bei Bernd“ schon, als ich einzog. Als ich das Abschließen mal vergaß, eilte mir Bernd keuchend hinterher und winkte und brüllte und wirkte überhaupt nicht mehr so sympathisch-skurril wie am Anfang.

Auch das Alkoholikerpaar unter mir versteht mich nicht und umgekehrt. Vier Tage nach meinem Einzug traf ich sie mal mal nachts im Treppenhaus. Er, ein kleiner Dicker mit Schnurrbart, hatte sein Betrunkensein nicht im Griff; sie, eine magere vom Leben gezeichnete Frau Mitte vierzig, war um Haltung bemüht. Wütend beschimpfte mich der Kleine: Seit Monaten schon trampele und poltere ich ja schon in meiner Wohnung herum, so laut, daß die Zimmerdecke bei ihnen wackeln würde: „Soll ich mal hochkommen?“ rief er kampfentschlossen. „Ich komm da gleich mal hoch!“

Normalirre halt. Am nächsten Tag brachte ich der Frau ein paar Blumen und lief nur noch in Strümpfen in der Wohnung herum. Freunde durften nur noch flüstern. Half nicht viel. Immer öfter klebten gelbe Zettel an meiner Tür: „Bitte nicht so Trampeln Danke“ Oder: „Bitte! Sie trampeln nach 22 Uhr noch! Möchten Sie ein paar Hausschuhe?“

Gern schreien sich meine Nachbarn auch an. Manchmal keift die Frau dann empört und etwas zusammenhanglos aus vermutlich ausländerfeindlichen Gründen herum: „Ich bin doch schließlich 'ne deutsche Frau, 'ne deutsche Frau!“

Beim Renovieren entdeckte ich unter tausend Tapeten ein Hakenkreuz an der Wand. Früher lebten hier Offiziere. Tadeusz, der beim Nachbarn eine Heizung einbaute, fand neulich einen antipolnischen Hetzartikel. Er fand es lustig, daß der Autor einen polnischen Namen trug.

Manchmal schleicht eine zerstört wirkende Blondine um die vierzig stundenlang durch's Treppenhaus und klopft klagend immer wieder genau an den Türen, hinter denen grad niemand ist. Wenn man die eigene Wohnung verläßt, versteckt sie sich scheu im Treppenhaus. Das ist sehr unheimlich. Wahrscheinlich wohnte sie hier mal oder hatte hier einen Liebhaber.

Einmal lag sie auch vor der Haustür und klagte immer wieder, warum ihr denn niemand helfe. Als ich sie fragte, ob ich ihr helfen könne, lehnte sie ab und ging. Neulich sei sie von einem Krankenwagen mitgenommen worden, berichtete eine Nachbarin.

Im Bayerischen Fernsehen sagte jemand, irgend etwas sei „himmeltraurig“. Dann schaute ich eine Weile nachdenklich aus dem Fenster in den hübsch gestalteten Abendhimmel, bis ein feister Unterhemdträgers im dritten Stock gegenüber zwei Türken anbrüllte, die sich auf der Straße unterhielten. Die sollten ihr „Maul halten“, er werde gleich „die Polizei holen“, das sei eine „Unverschämtheit“, und dies sei eine „Wohngegend“, und er müsse morgen arbeiten und: „Komm du mal hoch, komm du mal hoch!“ Dies „Komm du mal hoch!“ scheint eine Berliner Spezialität zu sein.

Auch seine Nachbarn seien ziemlich kraß, erzählte mir der Dokumentarfilmer Gerd Kroske aus Pankow. Eines Nachts zum Beispiel hätten sich die drei Alkoholikerfamilien aus dem Erdgeschoß regelrecht bekriegt. Am nächsten Morgen gab es eine Blutlache im Treppenhaus und alle Briefkästen waren demoliert. Am nächsten Tag hatte er dann einen Zettel in seinem zerstückelten Briefkasten gefunden: „Ick möchte Ihnen um Entschuldigung bitten, das ick mir ordnungswidrig verhalten hab“. Detlef Kuhlbrodt