piwik no script img

Stadt am Rande

taz-Serie „Das Verschwinden des öffentlichen Raums“ (Teil 7): Am Stadtrand gibt es keinen öffentlichen Raum. Doch der Rand droht das Zentrum zu erobern  ■ Von Uwe Rada

Wenn er voll Menschen ist, wird der Raum zum Platz“. Folgt man der Goetheschen Definition des Urbanen, müßte es sich beim Havelpark in Dallgow um einen Platz voller Lebendigkeit und städtischer Dichte handeln: Tausende von Menschen drängen sich auf engstem Raum. Mehrere Seitenstraßen sind voller Geschäfte. An zentralen Orten laden Bistros zum Verweilen ein. Doch Öffentlichkeit, diese sonderbare Eigentümlichkeit der Innenstädte, entsteht hier nicht. Das gleichförmige Rasseln der Einkaufswagen auf den 45.000 Quadratmetern Verkaufsfläche ist ein unmißverständliches Zeichen. Die nach Dallgow kommen, wollen nur das eine: einkaufen, möglichst schnell und billig. Die Stadt ist in Dallgow nur Zitat, Metapher.

Redet man von Berlin, so denkt man an die Linden, den Kurfürstendamm, Kreuzberg oder Prenzlauer Berg, die Museumsinsel, den Alexanderplatz. Das wirkliche Berlin aber liegt in Hellersdorf oder an den langgezogenen Vorstadtteppichen wie Lankwitz, Lichtenrade, Marienfelde. Schon längst wohnt der Großteil der Berliner (2,3 Milionen von 3,5 Millionen) außerhalb des S-Bahn-Rings, der die gründerzeitlichen Stadtquartiere von den Außenbezirken trennt. Der lebensweltliche Bezugspunkt der Mehrheitsberliner ist also nicht die Dichte des städtischen Raums, es sind die zerfransten, flächigen Randstädte.

Der ehemalige Senatsbaudirektor Hans Stimmann hat als Argument gegen die Hochhausfetischisten einmal vorgebracht, Berlin müsse gegenüber anderen Städten auch künftig unterscheidbar bleiben. Am Stadtrand freilich ist Berlin schon längst nicht mehr unterscheidbar. In den alten Trabantenstädten wie dem Märkischen Viertel, Hellersdorf, Marzahn oder der Gropiusstadt fällt es ebenso schwer, die Unverwechselbarkeit Berlins auszumachen wie in den Nachwendesiedlungen wie Karow-Nord oder Französisch Buchholz, deren postmoderne Stadtbilder an den Rändern jeder ostdeutschen Stadt zu finden sind.

Der Grund dafür liegt in der räumlichen Struktur der Peripherie, dieser, wie Lutz Niethammer einmal gesagt hat, „Verstädterung ohne Stadt“. Je weiter man an den Rand der Stadt gelangt, desto stärker wirken die zentrifugalen Kräfte, desto eindeutiger sind die Orte, desto unmittelbarer unterliegen sie ihrer Bestimmung. Einkaufsorte, Schlafstädte, Freizeitparks, Gewerbeparks, Dienstleistungszentren sind sauber voneinander getrennt. Das urbane Staunen über die Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit kennt man hier nur aus dem Kino.

Die Straße, in den Innenstädten noch immer Ort lebendigen Durcheinanders, ist in den Randstätten nur mehr „Korridor zwischen zwei Eigentlichkeiten wie Wohnen, Arbeiten, Freizeit, kein eigenständiger Erfahrungsraum, sondern lediglich Mittel zum Zweck“, schreibt der US-Soziologe Eike Gebhardt. Gebhardt spricht deshalb schon von den spezifischen „Leidensformen der Vororte“ wie „erzwungene Homogenität, kaum Privatsphäre und individuelle Spielräume, keine spontane Öffentlichkeit, kaum Fremdes oder Neues“. Die städtische Peripherie, räumlich und funktional in „Themenparks“ (!) aufgeteilt, wird damit nicht mehr von ihren Bewohnern, sondern einzig dem ausufernden Straßennetz zusammengehalten.

Die Bewohner der Randstädte scheint diese räumliche und funktionale Trennung freilich nicht zu stören. Die Erfahrung des Städtischen ist in den Außenbezirken nicht nur nicht vorhanden, sie ist nicht einmal erwünscht. Das Leben am Stadtrand soll ja gerade eine „Perspektive von außen“ schaffen, wie es der TU-Stadtplaner Manfred Sternberg formulierte, mithin die Illusion schaffen, weitab vom hektischen Trubel der Innenstadt inmitten abgesteckter Reservate in Ruhe leben zu können. Hat die suburbane Realität von Los Angeles, wo bereits 94 Prozent der Bewohner nicht mehr im Zentrum wohnen, die Partnerstadt Berlin bereits erreicht?

Kein anderer als Bundesbauminister Klaus Töpfer (CDU) hat auf der UN-Konferenz Habitat II. im Juni dieses Jahres vor einer weiteren Randwanderung der Stadt gewarnt. Auch in den zahllosen Expertenrunden des Stadtforums wurde die Suburbanisierung immer wieder als Schreckgespinst an die Wand gemalt. Und die Bündnisgrünen haben nach dem Fall der Mauer immer wieder gefordert, die öffentlichen Mittel für den Wohnungsbau auf die Altbausanierung der Innenstadtquartiere zu konzentrieren.

Das genaue Gegenteil ist eingetreten. Die einmalige Chance, am Ausgang des Jahrhunderts jene Zerstörungen zu vermeiden, die die Moderne in der Charta von Athen 1941 mit der Segmentierung städtischer Funktionen in Arbeit, Wohnen, Freizeit und Konsum angerichtet hat, wurde mutwillig verspielt. Zwar hat eine Zersiedelung des Umlandes noch nicht in dem Maße stattgefunden, wie nach dem Mauerfall befürchtet. Doch innerhalb des Stadtgebietes wuchern die Ränder. Die Folgen dieser zentrifugalen Dynamik sind aber nicht nur für das Umland, sondern auch die Innenstädte evident.

So stellen der Bau von 70.000 neuen Wohnungen seit 1990 in den als „Parkstädten“ apostrophierten Neubaugebieten wie Karow oder Pankow, die Ausweisung von fünf Entwicklungsgebieten sowie der zunehmende Wegzug ins Umland (allein 22.000 im vergangenen Jahr) die Innenstadtbezirke vor große Probleme. In Prenzlauer Berg etwa mußte Schulstadtrat Burkhardt Kleinert (PDS) bereits zwei Klassenzüge schließen, weil es keine Schüler mehr gab. Die Schulleiter wissen anhand der Ummeldungen ihrer einstigen Zöglinge oftmals, wohin die Reise geht: nach Hellersdorf oder Marzahn oder – so es die finanzielle Situation der Familien zuläßt – direkt in die Neubausiedlungen im Nordosten. Ähnliches berichtete auch der Tiergartener Baustadtrat Horst Porath (SPD). Immer mehr Familien zögen aus Moabit und Tiergarten weg.

Sterben die Innenstädte aus? Spätestens seit 1993 ist in Berlin eine demographische Trendwende zu beobachten. Während der Sterbeüberschuß 1992 (12.337) noch durch einen Zuzugsüberschuß von 19.717 überboten werden konnte, gab es 1993 erstmals einen negativen Saldo (Sterbeüberschuß: 12.549; Zuzugsüberschuß: 9.644). 1994 (aktuellere Zahlen gibt es nicht) setzte sich diese Entwicklung fort. Für einige Bezirke ist zudem die Tatsache zu beobachten, daß zum Sterbeüberschuß noch eine Bevölkerungsabnahme durch Fortzug kommt. Deutliche Verluste von über 1.000 Einwohnern hatten 1994 unter anderem Mitte, Tiergarten, Wedding, Friedrichshain, Charlottenburg (2.253!), Marzahn und (nach einem Gewinn 1993) auch Prenzlauer Berg hinzunehmen. Eindeutige Gewinner waren Pankow, Weißensee, Hellersdorf und Wilmersdorf.

Gleichzeitig zog es viele Besserverdienende in die modernisierten Altbauten der Innenstadtquartiere. Gerade hier materialisiert sich auch der gestiegene Wohnflächenbedarf von mittlerweile 35 Quadratmeter pro Einwohner. „Durch den Zwang zu Individualität, Flexibilität und Mobilität“, beobachtet der Publizist Florian Rötzer, „bilden sich neue Lebensformen heraus, die mit einer Zunahme der Single-Haushalte und einer geringeren Verhaftung an die Nahumgebung einhergehen. Man wächst nicht mehr in soziale Orte hinein, man muß sie sich knüpfen. Der jeweilige Ort wird immer unwesentlicher, und viele Aktivitäten, die früher den öffentlichen Raum einer Stadt belebten, werden möglichst schnell, reibungslos und anonym erledigt.“

Die extrem niedrige Gebietsbindung von Singles (in Berliner Sozialstudien hinreichend erforscht), die Desintegration in den Innenstädten und die Randwanderung mit ihrer räumlichen und sozialen Spaltung, sind also nur zwei Seiten ein und derselben Medaille. Bereits 1978 hatte Paul Virilio die düstere Prognose formuliert, daß das „Neue“ an den Städten die „unerhörte Entwicklung von Transitstätten, Flughäfen und anderen Schleudersitzen“ sei, „die zunehmend unsere alten Wohnsitze verdrängen“. Der anationale Staat, so Virilio, „beginnt seine Bande zu den Stadtbevölkerungen zu lockern, sein Milieu ist künftig der Nicht-Ort der Geschwindigkeit, das Nicht-Territorium einer Vektor-Politik, in der die Zeit dem Raum den Vorrang abläuft.“

Die Frage, die Virilio damals aufgeworfen hat, ist heute dringlicher denn je. In den Feuilletons der Zeitungen vergeht kaum ein Monat, in dem nicht vom Niedergang der Städte die Rede ist. Mit der dritten industriellen Revolution, so lautet übereinstimmend das Schreckensszenario, werde die Stadt als wirtschaftlicher Standort nur noch eine begrenzte Funktion haben. Dazu komme, daß im Rahmen der Globalisierung der Wirtschaft die Städte auch als Orientierungspunkt nationaler Ökonomien funktionslos werden. In ihrem Buch „Dienstleistungsgesellschaften“ haben Häußermann und Siebel darauf hingewiesen, daß die Gewinner der Tertiarisierung gerade nicht die Städte, sondern ihre Ränder sind, daß „Disurbanisierung, Hierarchisierung, Suburbanisierung und Polarisierung“ mit dem Wachstum gerade unternehmensorientierter Dienstleistungen einhergingen. Die Randwanderung der gewerblich-industriellen Betriebe wie auch zahlreicher Dienstleistungsbetriebe scheinen diese Befürchtung ebenso zu bestätigen wie die Gründung von High-Tech-Zentren wie dem Forschungs- und Technologiepark Adlershof, wo einmal 30.000 Arbeitsplätze (und 15.000 Wohnungen) entstehen sollen.

Friedrich Sträter, der Herausgeber des Bandes „Los Angeles – Berlin“, geht noch einen Schritt weiter. Er behauptet, daß die neue Suburbanisierung nicht nur Ausdruck dieser Globalisierung ist, sondern die Voraussetzung dafür, um im globalen Wettkampf der Städte zu bestehen. Schließlich hätten die weltwirtschaftlichen Restrukturierungsprozesse „nicht nur zu einer technologischen und arbeitsorganisatorischen Reorganisation der Produktion“ geführt, sondern auch zu einer „Veränderung ihrer räumlichen Ordnung“. Die Stadt wird also wissentlich auf dem Altar des globalen Wettbewerbs geopfert. Nur wer genügend Flächen an der Peripherie zur Verfügung stellt, wer den „suburban separatism“ (Mike Davis) befördert, kann auch hoffen, vom Steuerkuchen der weltweit agierenden Konzerne ein Stück abzubekommen.

Was aber bleibt in diesem Szenario von und in den Innenstädten außer Konsum, Kneipen und Bürojobs für „strategische Dienstleistungen“? „Urbanes Leben in den Zentren, aus denen die Wohnbevölkerung weitgehend abgewandert ist, beschränkt sich mehr und mehr auf Verkauf und Konsum, auf Vergnügen und Kultur, deren Angebote Zeugnis von der globalen Vereinheitlichung ablegen“, schreibt Florian Rötzer. „Im Zeichen der Dysfunktionalität von räumlicher Verdichtung und Nähe“, so Rötzer, „werden die alten Stadtkerne zu Reservaten, zu Museen, zu verfallenden Strukturen des digitalen Urbanismus, dessen Kennzeichen Zerstreuung, Dezentralisierung, Aufwertung des Innen, Globalisierung, Individualisierung und Mobilität sind.“

Wenngleich der reale Gehalt dieser Prognosen, die allzu schematisch den räumlichen Implikationen globaler Kapitalströme folgen und soziale und politische Unwägbarkeiten außer acht lassen, zu hinterfragen ist – die Tendenz ist vorgegeben. Die künstliche Wiederbelebung der Hackeschen Höfe oder die Musealisierung des Holländischen Viertels in Potsdam zeigen eindrucksvoll, wie die Filetstücke der barocken oder gründerzeitlichen Viertel für eine zahlungskräftige Klientel aufbereitet werden. Wo allenthalben vom Verschwinden der Stadt die Rede ist, muß das Bild vom Städtischen umso mehr zum Erlebnis werden. Die zahlreichen Spektakel, vom Mittelalter- oder Gauklerfest, die „Festivalisierung der Städte“ künden sinnfällig vom verzweifelten Versuch, die Innenstädte wenigstens als Ort der Kultur zu erhalten. Städtisches Leben ist aber mehr, es erfordert eine Idee vom Städtischen, das sich mit seiner Inszenierung nicht zufriedengibt.

Eine andere Idee von Stadtkultur ist derzeit allerdings Mangelware, hat der Architekturkritiker Michael Mönninger in einem Vergleich von 21 europäischen und nichteuropäischen Städten festgestellt: „Vor allem auf den Wohlstandsinseln der westlichen Welt fällt auf, daß kaum noch intelligente, übergreifende Konzepte zum Städtebau existieren. Statt eines planvollen Urbanismus gibt es immer mehr architektonische Großvorhaben. Durch dieses isolierte Wachstum differenzieren sich die abendländischen Städte nicht weiter aus, sondern werden immer gleichförmiger.“ Die einst kulturprägende Großstadterfahrung, folgert Mönninger, „die Konfrontation gegensätzlicher Gruppen, Klassen und Lebensstile, droht auszusterben“.

Wenn aber diese kulturprägende Großstadterfahrung verlorengeht, dann verlieren die innerstädtischen Bewohner nicht nur ein Refugium, das ihnen nicht selten über die kapitalistisch-globale Erfahrung, nur als möglichst billige Arbeitskraft existent zu sein, hinweghilft. Eine Spaltung der Gründerzeitkieze in Armuts- und Mittelstandsquartiere wäre auch der untrügliche Hinweis dafür, daß die Suburbanisierung mit ihrer sozialen und räumlichen Segmentierung nunmehr auch die Innenstädte erreicht hat, die Stadt von ihren Rändern her erobert worden ist.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen