piwik no script img

Bosse brechen Revolte vom Bauzaun

■ Bauindustrie im Osten kündigt erstmals fristlos Tarifvertrag. Protest gegen Angleichung der Löhne auf Westniveau. Arbeiter müssen auf fünf Prozent mehr Lohn verzichten. IG Bau will klagen, aber vorerst nicht streiken

Berlin (taz/AP) – Die Baubranche in Ostdeutschland steht vor einem bisher einmaligen Konflikt: Die Arbeitgeber in der Bauindustrie kündigten gestern fristlos den laufenden Lohntarifvertrag für die neuen Bundesländer (ohne Ostberlin). Damit reagiere die Bauindustrie auf die immer größere Kluft zwischen Tariflöhnen und den tatsächlich gezahlten Marktlöhnen, erklärte der Vizepräsident des Hauptverbandes der deutschen Bauindustrie, Wilhelm Küchler.

Vizepräsident Küchler sagte, die wirtschaftliche Lage der ostdeutschen Bauunternehmen habe sich seit dem Abschluß des Stufentarifvertrages für Ostdeutschland im März 1995 so dramatisch verschlechtert, daß sich der Hauptverband zu dem ungewöhnlichen Schritt gezwungen gesehen habe. Laut dem schon im April unterschriebenen Tarifvertrag bekämen die betroffenen Beschäftigten zum 1. September eine Lohnerhöhung um 1,85 Prozent. Für den 1. Oktober war eine Angleichung an die Westlöhne von 92 auf 95 Prozent vereinbart worden. „Die Revolution ist jetzt ausgebrochen, als das zur Zahlung anstand.“ Die ostdeutschen Unternehmer hätten ihren westdeutschen Kollegen vorgeworfen, sie hätten sie während der Tarifverhandlungen „vom Westen her majorisiert“.

Der Tarifvertrag im Ostbau wurde sowohl vom Hauptverband als auch vom Zentralverband des Deutschen Baugewerbes (ZDB) unterzeichnet. Der ZDB will den Tarifvertrag aber nicht kündigen, sondern setzt auf Nachverhandlungen mit der IG Bau. Damit sind von dem Vorstoß der Bauindustrie rund 100.000 der 400.000 Baubeschäftigten in Ostdeutschland betroffen. Insgesamt müssen sie nun auf fast fünf Prozent mehr Lohn verzichten.

Die IG Bau will rechtliche Schritte einleiten, aber vorerst nicht streiken. Der IG- Bau-Vorsitzende Klaus Wiesehügel kündigte eine Klage vor dem Arbeitsgericht Wiesbaden an. Auch werde man die Beschäftigten in den Betrieben auffordern, die Erhöhung der Löhne mit Hilfe der Gewerkschaft einzuklagen.

ZDB-Geschäftsführer Harald Schröer erklärte, mit der Kündigung gingen die Arbeitgeber beim Hauptverband ein großes Prozeßrisiko ein. Es gäbe aber eine Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, die unter strengen Voraussetzungen, wie einer „dramatisch veränderten Wirtschaftslage“, eine fristlose Kündigung von Tarifverträgen zulasse. Allerdings gebe es auch bei gekündigten Tarifverträgen eine „Nachwirkung“: Die alten Regelungen gelten solange, bis neue Tariflöhne vereinbart wurden. Im Ostbau liegt der niedrigste Tariflohn bei etwas über 18 Mark brutto. Nicht tarifgebundene Unternehmen zahlen jedoch teilweise unter 15 Mark. BD Kommentar Seite 10

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen