piwik no script img

Wenn Nachrichten zur Sinnflut werden

„Sinnflut“ ist die erste Nachrichtenagentur von Jugendlichen in Deutschland. Schwerpunkt sind ökologische und sozialkritische Nachrichten, die vor allem witzig und ironisch geschrieben sind. Denn Ökokatastrophen sind deprimierend genug  ■ Von Dirk Engelhard

„Blumen, einst ein Zeichen für Nächstenliebe, werden immer öfter als heimtückisches Instrument für Vergiftungsanschläge benutzt. Schuld daran ist ein Netzwerk, das über die Blumenfarmen in Kolumbien, die einen großen Teil des europäischen Blumenmarktes beliefern, aufgeklärt hat. Durch die verantwortungslose Verbreitung von Informationen wie etwa, daß in Kolumbien rund zweihundert Kilo Pestizide versprüht werden, von denen einige hier nicht einmal mehr mit Waffenschein zu bekommen sind, konnte die Unterwelt die Blume als Waffe für sich entdecken. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht ein Skandal, wurden doch einige große Chemieunternehmen gezwungen, die gefährlichsten Pestizide vom kolumbianischen Blumenmarkt zu nehmen, um einem weiteren Mißbrauch Vorschub zu leisten. Mehr Infos dazu bei Sinnflut.“

So lautet eine der Nachrichten der anderen Art, mit der sich „Sinnflut“, Deutschlands erste Nachrichtenagentur „von und mit jungen Menschen für junge Menschen“, wie es in der auf Umweltpapier gedruckten Broschüre heißt, Aufmerksamkeit verspricht. Nachrichten ist vielleicht die falsche Bezeichnung, denn die Kurztexte persiflieren und karikieren eher ökologische und soziale Mißstände. Der Untertitel der Agenturmeldung verrät die Richtung, in der man arbeiten will: „Jugend-Nachrichtenagentur für ökologische und soziale Kreativität“.

Auf dem Jugend-Künstler-Klimagipfel, einer Parallelveranstaltung des Klimagipfels in Berlin im April 1995, gründeten Jugendliche aus 17 Nationen die neuartige Jugend-Nachrichtenagentur. Aus ihr entwickelte sich ein festes Team von 9 Jugendlichen, die mit der Mammutaufgabe begannen, eine arbeitsfähige Nachrichtenagentur aufzubauen. Viel Enthusiasmus gehörte dazu, der jetzt erste zaghafte Früchte trägt.

Als Kooperationspartner konnten etablierte Institutionen, darunter das „Institute for Social Inventions“ in London, die „BUND Jugend“ in Bonn, das „Clearing- house/Büro für angewandte Zukünfte“ in Wuppertal und die „Internationale Bibliothek für Zukunftsfragen“ in Salzburg gewonnen werden. Das Projekt wird gesponsort von der Senatsverwaltung für Jugend und Familie, der Stiftung Mitarbeit in Bonn und der Stiftung Naturschutz in Berlin. Das Jugendzentrum an der Grenzallee in Neukölln stellt seinen Computerraum mit Internetanschluß zur Verfügung und spendiert sogar die Telekom-Kosten.

Irmela Bittencourt von Künstler in Aktion g.e.V., Gründungsmitglied von Sinnflut, ist zwar 30 Jahre älter als der Durchschnitt des Sinnflut-Teams, dafür aber um so engagierter: „Unsere Nachrichten sind vor allem witzig. Sie reizen zum Lesen. Mit der Zeit haben wir uns einen wiedererkennbaren Stil erarbeitet. Beim Schreiben der Nachrichten versuchen wir, das Thema von einer anderen Seite anzugehen und ironisch zu sein.“ Was man von der Mehrzahl der Ökokatastrophen-Berichte im deutschen Blätterwald nicht sagen kann – immer mehr Leser überblättern die deprimierenden Berichte und wenden sich lieber dem Sexleben von Prinzessin Diana zu.

Den apokalyptischen Horrormeldungen, die jeden Tag Zeitungen, Radio und Fernsehen überschwemmen, will man ökologische Kreativität entgegensetzen und „eine Kultur des Widerstandes gegen Haß und gegen die Zerstörung der Natur“ fördern. „Unsere Ressource ist unser eigenes schöpferisches Potential, für medienwirksame Aktionen genauso wie für Unspektakuläres“, heißt es in der Sinnflut-Broschüre. Nachrichten aus dem Sinnflut-Ticker berichten über Stattauto, über Fahrradprojekte, Möglichkeiten des Rohstoffes der Zukunft, Hanf, das Hamburger Spendenparlament, Friedensbrigaden, Arbeitsloseninitiativen, Tauschbörsen, Lichtkläranlagen (gibt es in den USA!) und vieles andere. Am Ende der meisten Nachrichten stehen Kontaktadressen und Tips, die jeder einzelne konkret umsetzen kann.

Girena Holland, Sinnflut-Redakteurin: „Einmal pro Woche besprechen wir auf der Redaktionskonferenz die Texte, die jeder von uns zu Hause bearbeitet. Es wird einfach viel zuwenig über gute Initiativen berichtet. Pressefuzzis sagen ja: Eine gute Nachricht ist keine Nachricht. Wir denken da anders. Auf keinen Fall sind wir allerdings nur für Friede-Freude-Eierkuchen-Meldungen zuständig.“ Bei der Redaktionskonferenz geht es oft richtig ab. Als Ephraim Borschkowski die Arbeit von Kinderparlamenten in Süddeutschland in einer süffisanten Kurz- Glosse karikieren will, „die haben da so niedliche Holzpferdchen auf ihrer Pressemitteilung und quatschen seitenlang über Schulhofbesichtigungen und Waldspaziergänge. Die bewegen nichts!“ erntet er Widerspruch von verschiedenen Seiten. Zwanzig Minuten wird das Für und Wider von Kinderparlamenten und deren Effektivität diskutiert. Gute Ansätze seien zu erkennen, einigt sich die Runde, und das sei eine Sinnflut-Nachricht wert.

Obwohl die Newcomer aus Neukölln für ihre Dienste nichts verlangen, kommen Antworten von potientiellen Abnehmern wie Magazinen und Zeitungen nur tröpfelnd. Ephraim Borschkowski: „Zur Werbung haben wir sogar Jingles für Radiosender produziert. Die kamen aber ganz schlecht an, weil die Redaktionen nicht gewußt haben, wo sie die Spots unterbringen sollen.“ Britta Steffenhagen, die ihr soziales Jahr beim Team der Sinnflut macht: „Wir beschränken uns nicht auf irgendeine Zielgruppe. Ob unsere Meldung in der Super-Illu oder in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erscheint, ist uns gleich. Hauptsache, sie erscheint und wird gelesen.“ Das mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hat zwar noch nicht geklappt, aber die Frankfurter Rundschau – ökologisch sowieso eher aufgeschlossen – richtet eine feste Rubrik für Sinnflut mitsamt Agentur-Logo ein. Auch die Szene-Stadtillustrierte Prinz, der Berliner Nordkurier, die Leipziger Volkszeitung, ein paar kleinere Ökomagazine und die Berliner Zitty werden Sinnflut-Anreißer drucken.

Jeder Jugendliche kann sich bei Sinnflut engagieren, einmal pro Woche ist Redaktionssitzung. Das Jugendzentrum hat seinen Sitz an der Grenzallee 5, am S-Bahnhof Köllnische Heide in 12057 Berlin.

Telefon (030) 6835992.

E-Mail: JZ_Grenze6Link_B36

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen