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Buben mit Mähnen

■ Gruppendruck und Tod als Themen von gestern? In der Schiller-Werkstatt ließ das carrousel Theater Michael Wildenhains Jugendstück "Enger Ort" uraufführen

Michael Wildenhain hat ein neues Stück geschrieben. Ein Jugendstück. Im Auftrag des carrousel Theaters. „Enger Ort“ ist eine Dramatisierung von Wildenhains 1994 erschienener Erzählung „Heimlich, still und leise“. Er schildert hier die Geschichte des Außenseiters Schipper. Schipper ist immer falsch. Zu gut in der Schule, zu kurz die Haare, zu lang die Leitung. Von den Mädchen gemieden, von den Jungen verachtet, ist Schipper der Spiegel, in dem die Leiden der männlichen Pubertät sich ins Unendliche vergrößern. Schipper ist das wandelnde Arsenal der Peinlichkeiten, vor denen der heranwachsende Jugendliche am liebsten schamrot in den Boden versinken wollte.

Und weil Schipper dergestalt — naturgemäß — keine Identifikationsfigur abgibt, ist bei Wildenhain die eigentliche Hauptfigur „der Freund“. Der Freund, ein Alter ego des Autors, ist das Medium, durch das der Blick des Zuschauers auf Schipper gelenkt und von zunehmender Sympathie eingefärbt wird. Sympathie für den ungelenken Starrsinn, aber auch die schüchterne Selbstsicherheit Schippers, mit der sich der von den Schulkameraden Verspottete über den Anpassungsdruck der Gruppe hinwegsetzt und einen eigen-sinnigen Weg verfolgt.

Zuerst muß Schippers Mutter dem Freund noch Geld zustecken, damit der sich mit dem verachteten Klassenkameraden überhaupt abgibt. Wegen seiner Unerfahrenheit mit Mädchen wird Schipper als Homo verspottet. Und steigt doch zum heimlichen Vorbild auf, als Gretel sich in ihn verliebt und Schipper von allen in der Klasse als erster mit einem Mädchen ins Bett geht.

Die Freundschaft mit Schipper wird für den Freund zu einer Schule der Gefühle. Je mehr er den Außenseiter verteidigt, desto weiter entfernt er sich aus der pubertierenden Gruppe, die er zuvor anführte. Aber die Konzentration Wildenhains auf die glücklich verlaufende Individuation des Freundes ist zugleich die Hauptschwäche des Stücks.

Denn die endgültige Emanzipation zur eigenständigen Persönlichkeit bedarf der Katastrophe. So kippt der Autor unvermittelt die glückliche Liebesgeschichte von Gretel und Schipper. Gretel läßt das gemeinsame Kind abtreiben, und Schipper hängt sich auf. Als die Klassenkameraden „der Judenschlampe“ Gretel die Schuld an Schippers Tod geben, stellt sich der Freund offen gegen die Gruppe auf ihre Seite.

„Enger Ort“ ist ganz sicher kein großer Theatertext. Aber da Theater mehr ist als die bloße Verteilung von Worten auf vorgegebene Sprecherrollen und pure Illustration eines Textes, kann auf dem Theater noch (fast) jeder Text zum Ereignis werden. Dafür gibt es die Inszenierung. Die aber findet bei Jürgen Zielinski nicht statt.

Zielinski hat die Handlung nach West-Berlin 1975 gelegt. Davon zeugen die Musik vom Band (einmal quer durch den Gemüsegarten: von Middle of the Road bis Zappa), projizierte Briefmarken und die Mähnen, die die Buben tragen. Offenbar glaubt er, Tod und die Befreiung des einzelnen vom hammelherdenhaften Druck der pubertierenden Horde seien Themen von gestern. Aber der annoncierte „Blick zurück auf die Jugend der Väter“ ist leer. Kein Zorn, keine Trauer, das kommunikative Beschweigen der Vergangenheit feiert fröhliche Urständ.

Die allein gelassenen Schauspieler, deren Namen in diesem Zusammenhang zu nennen an Ehrabschneidung grenzte, mühen sich mit der Exekution des Textes, der bar jeden Gespürs für Akzentuierung und Timing über die Runden geschleppt wird. Zielinski, ehemaliger Leiter des Jugendtheaters auf Kampnagel in Hamburg, entzieht sich der eigenen Geschichte durch ebenso hohlen wie routinierten Spott.

Schippers Mutter, die — Achtung!, sexuelle Anspielung! — mit Mohrenköpfen hantiert, scheint wie durch Zauberhand aus einem Köpenicker Kleinbürgerparadies nach West-Berlin versetzt. Dagegen wirkt der Freund, als habe er sich vom Straßenkampf in Kreuzberg auf die Bühne verirrt. Die Hetzmeute der Klassenkameraden gerät zur klamaukigen Clowntruppe, vom Fundus der Mainzer Fasenacht im 70er-Jahre-Look ausstaffiert. Der Lehrer, der die Klasse zum Strafsingen („Bandiera Rossa“) kommandiert und Flugblätter gegen den § 218 austeilen läßt, entstammt als krude Kreuzung von AKW-Gegner, Kiffer und Zuhälter dem Kabarett.

Kein einziges einprägsames oder gar berührendes Bild gelingen Zielinski und seiner Ausstatterin Jutta Imelda Kanneberger im schwarzen, saugenden Loch der Schiller-Werkstatt. Einzig die Gretel von Esther Linkenbach fällt durch sprühende Lebendigkeit aus dem Rahmen. Kein guter Saisonauftakt für das carrousel Theater. Eher eine Niederlage im Kampf um die Subventionen. Eine Niederlage im Ausmaß von Waterloo. Nikolaus Merck

„Enger Ort“ von Michael Wildenhain. Regie: Jürgen Zielinski. Ausstattung: Jutta Imelda Kanneberger. carrousel Theater in der Werkstatt des Schiller Theaters, Bismarckstraße 110, Charlottenburg. Telefon carrousel Theater: 5 53 34 95. Die nächsten Aufführungen sind heute sowie am 13. und 14. September, 19.30 Uhr.

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