Klassenkampf mit der roten Postkarte

In Berlin mußte sich die DGB-Spitze harsche Kritik von „Kritischen Gewerkschaftern“ gefallen lassen. Die Mehrheit der Demonstrationsteilnehmer jedoch folgte dem zentralen Aufruf des DGB  ■ Aus Berlin Christian Füller

Manfred Birkhahn hält die Fahne der Gewerkschaft HBV hoch – mit zerknirschtem Gesicht. Nur 1.000 Menschen haben sich der Demonstration der Beschäftigten in Handel, Banken und Versicherungen (HBV) angeschlossen, die zur großen DGB-Kundgebung am Brandenburger Tor führt. Nun muß sich der Vorsitzende der Berliner HBV auch noch aus seinem eigenen Lautsprecherwagen anhören, was der DGB alles falsch macht. „Was können wir von einem DGB erwarten, der immer noch auf Gespräche mit Kohl setzt?“ skandiert eine Aktivistin ins HBV-Mikro. Der Gewerkschaftsdachverband habe einseitig mobilisiert, schimpft sie. Arbeitslose, SozialhilfeempfängerInnen und MigrantInnen – das DGB- Establishment vergesse sie alle beim Kampf gegen den „Generalangriff der Regierung“. Der Generalangriff, vulgo „das Sparpaket“, das ist das Programm für mehr Beschäftigung und Wachstum.

Die Aktivistin gehört einem Bündnis an, das sich „Kritische GewerkschafterInnen Ost/West“ nennt. Zusammen mit der HBV, einem versprengten Häuflein von der IG Medien und einem Schock PDSlerInnen ziehen sie Unter den Linden entlang. „Wir müssen mehr werden“, knurrt HBV-Chef Birkhahn, „das ist viel wichtiger, als den DGB zu kritisieren.“

Am Brandenburger Tor versinkt das 1.000-Menschen- Rinnsaal in dem Meer der „Kolleginnen und Kollegen“. Rund 60.000 protestieren dagegen, Kündigungsschutz und Lohnfortzahlung einzuschränken. Alles, was links ist, hat sich vor dem Tore versammelt. Unterschiede werden betont und verschwimmen doch: Der ältere Herr von der PDS wehrt sich wacker gegen eine Politik, „die uns ans Leder will“. Mit der orangefarbenen Fahne der IG Bergbau und Energie manifestiert der Junge vom „SV Boddenkicker Greifswald“ seine Haltung. Die Lehrerin aus dem Osten Berlins schreibt derweil eine Protest-Postkarte an Helmut Kohl. Und sagt dann, ohne mit der Wimper zu zucken, die Demo könne gar nichts bewirken, „weil sie gewaltfrei bleibt“. Von Gewalt keine Spur. Die Sonne scheint und die schönen Männer der Flying Pickets singen fröhlich, glatt und a capella in die Kundgebung „für Arbeit und soziale Gerechtigkeit“.

Ursula Engelen-Kefer, die immer aufgekratzte DGB-Vize, tut, was die „Kritischen GewerkschafterInnen“ befürchtet haben. Sie erneuert das Angebot eines „Bündnisses für Arbeit“. Mit Arbeitszeitverkürzung könnten „Hunderttausende Arbeitsplätze gesichert und geschaffen werden“. Den Tenor der 60.000 trifft Engelen-Kefer. Sie erhält Beifall, als sie sagt, das Programm der Bundesregierung schaffe weder mehr Beschäftigung noch mehr Wachstum. Es sei typisch für die 13jährige Regierungszeit Kohls, in der die Arbeitslosigkeit auf „Weimarer Rekordhöhe“ gestiegen sei. „Das ist die Bilanz einer Politik, die auf den Markt setzt“, steuert die oberste Gewerkschafterin zielsicher ihre Schlußpointe an: 1998, die Bundestagswahl, der ersehnte Wechsel, Kohl stürzen.

Engelen-Kefers rhetorischer Höhepunkt steht für die Kampfstrategie des DGB: Dem Sparpaket die rote Postkarte zeigen. Die „Kritischen Gewerkschafter“ haben das DGB-Motiv ironisch umgedeutet: Klassenkampf mit der Postkarte. Auf ihrem Flugblatt wird der Kanzler von einem dicken Stapel Postkarten erschlagen.