piwik no script img

„Das Theater braucht ein Ziel“

Eva Kemlein ist unter den Berliner TheaterfotografInnen die kleinste – und mit 87 Jahren die älteste. Brechts „Mutter Courage“ war ihr Erweckungserlebnis, und Castorf liebt sie auch  ■ Von Kolja Mensing

Eva Kemlein ist die kleinste unter den 15 Theaterfotografen, die sich im Zuschauerraum der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz versammelt haben. Etwa einen Meter fünfzig groß, reicht sie dem Kollegen David Baltzer mal gerade bis zu den Taschen seiner umgerüsteten Angelweste. Langsam geht sie durch die Sitzreihen, ein Stativ in der Hand und einen riesigen Rucksack auf dem Rücken, bis sie einen guten Platz in der Mitte des Raumes gefunden hat. Sorgfältig packt sie zwei Kameragehäuse, lichtstarke Objektive und einige Filme aus. Routinierte Handgriffe: Eva Kemlein macht seit 1945 Theaterfotos in Berlin. An diesem Abend ist die 87jährige zur zweiten Hauptprobe von Andreas Kriegenburgs Inszenierung „Zement“ in die Volksbühne gekommen.

Von Brecht bis Schlingensief hat Eva Kemlein so ziemlich alles gesehen und abgelichtet, was man auf einer Theaterbühne machen kann. Auch wenn sie inzwischen keine Fotos für Zeitungen mehr macht, ist sie bei fast allen Premieren dabei: „Ich will einfach wissen, was passiert.“

Wie Kriegenburg mit Heiner Müllers „Zement“ auf der Bühne umgeht, gefällt ihr, auch wenn die drei Stunden anstrengend waren. Der Regisseur, findet sie, habe sich auf zeitgemäße Art und Weise mit dem Thema der gescheiterten Revolution beschäftigt – ein wichtiges Thema im Leben der Theaterfotografin. Obwohl Eva Kemlein 1952 aus der SEW, der Sozialistischen Einheitspartei West-Berlins, geworfen wurde, weil sie sich wegen ihres Berufes nicht ausreichend um die Bezirksarbeit kümmen konnte, ist sie doch ihr ganzes Leben Kommunistin geblieben.

„Das werden Sie verstehen“, sagt sie bestimmt, „wenn man den Faschismus mitgemacht hat, wenn man als Jüdin verfolgt wurde, in der Illegalität gelebt hat, Widerstand geleistet hat – da konnte man doch nach dem Krieg nicht anders, als Kommunist zu werden!“ Das hieß für Eva Kemlein noch lange nicht, daß die Partei immer recht hatte. Auch wenn ihre Entscheidung, in West-Berlin zu bleiben, auf Anregung der Kader gefällt wurde: „Die wollten natürlich, daß auch ein paar Kommunisten im Westen blieben.“ Mit der Parteibürokratie der DDR, den unfähigen Betonköpfen des ZK, sei sie nie einverstanden gewesen – aber eine andere Alternative zum reaktionären BRD-Staat sah sie nicht.

Mit ihrem Partner Werner Stein, einem Schauspieler, Regisseur und Autor, zog sie in die Künstlerkolonie am Breitenbachplatz in Wilmersdorf. Dorthin waren nach 1945 viele Theaterleute und andere Künstler zurückgekehrt, aus dem Exil in den genossenschaftlichen Wohnungsbau. Im Mietshaus gegenüber wohnte Ernst Busch, der zum Brecht-Umfeld gehörende Regisseur Stefan Dudow und Erwin Piscator waren Nachbarn.

Die meiste Zeit verbrachte Eva Kemlein allerdings in Ost-Berlin. Dort lebten ihre Freunde, dort arbeitete sie. Sie fotografierte am Deutschen Theater, im Berliner Ensemble und in der Volksbühne. Ihre Fotos verkaufte sie an den ADN-Vorgänger „Illus-Bilderdienst“, an die Berliner Zeitung, die Morgenpost und den Sonntag. Alles DDR-Blätter, in der Westpresse erschienen keine Fotos der Pendlerin. „Die haben mich gemieden und ich sie auch“, stellt sie nicht ganz unbefriedigt fest. Eine – ideologisch einwandfreie – Ausnahme machte sie allerdings: Die Wahrheit, das Parteiblatt der SEW, bekam seit den siebziger Jahren Fotos von ihr.

Ihre Honorare bekam Eva Kemlein in Ost-Mark angerechnet. Allerdings auch nicht einmal in bar, sondern in Form eines „Einkaufsausweises“, auf den monatlich die meist nicht geringe Honorarsumme eingetragen wurde: „Damit durfte ich dann in Ostberliner Läden einkaufen.“ Nach langen Kämpfen mit den Behörden erhielt die Berliner Jüdin im Westen eine Entschädigung angerechnet, die man ihr zunächst wegen der Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei verweigern wollte. Mit dem spärlichen Betrag bezahlte Eva Kemlein ihre Miete.

Die ersten Fotos machte sie bei Brechts Inszenierungen im Theater am Schiffbauerdamm. Brecht sollte ihr Leben, ihr Verhältnis zum Theater bestimmen: „Ein Stück und eine Inszenierung wie die ,Mutter Courage‘, das war großartig. Da war all das drin, was wir erlebt hatten.“ Dieses Erlebnis habe sie nie wieder gehabt, wenn es auch immer wieder gutes und engagiertes Theater gebe.

Theater ist für Eva Kemlein kein wertfreies, rein ästhetisches Erlebnis. Die Inhalte sind ihr wichtig. Das unterscheidet die Fotografin von vielen ihrer Kollegen, die im Theater einfach nur auf ein gutes Motiv warten. Theaterfotografie heißt für Eva Kemlein mehr als nur die Reproduktion eines künstlerischen Ereignisses: „Das Bild muß etwas von dem erzählen, was ich auf der Bühne gesehen habe.“ Oft hat es geklappt: Kemleins Foto von Helene Weigel als Mutter Courage nimmt über den einzelnen Moment hinaus die Schattierungen der Figur ins Bild hinein.

Eine Nostalgikerin ist die Brecht-Erweckte aber trotzdem nicht. Gern arbeitet sie zum Beispiel in der Volksbühne: „Was Castorf macht, ist so wichtig. Er setzt sich als einziger wirklich mit den politischen Problemen unserer Zeit auseinander.“ Auch das Theater Thomas Langhoffs, des Gegenpols zu Castorf, schätzt sie jedoch – wegen der intensiven Arbeit des Regisseurs mit seinem Ensemble, der Umsicht, die er auf jede einzelne Figur in seinen Stücken verwendet.

Das westdeutsche Theater der Vorwendezeit lehnt Eva Kemlein ab. Die Kunst-Höhenflüge der Schaubühne, die Niederungen des Renaissance-Theaters, alles hat sie für die Wahrheit geknipst. Wirkliche Impulse fand sie nur in der Off- Szene. „Es gab zuviel Show im Westtheater. Peter Zadek zum Beispiel“ – über den ärgert sich die Fotografin besonders gern – „hat immer nur versucht, sein Publikum zu beeindrucken oder zu provozieren. Es reicht doch nicht, ein nacktes Mädchen auf die Bühne zu stellen. Er hatte kein wirkliches Ziel.“

Das Ziel, das meint Eva Kemlein politisch. Oder sogar revolutionär. Wenn man sie jedoch auf die gesellschaftskritischen Inszenierungen an den bundesdeutschen Theatern in den siebziger Jahren anspricht, funkeln ihre Augen kategorisch: „Moment mal – Brecht wurde doch zum Beispiel kaum gespielt. Theater hat ganz viel mit Politik zu tun, und es wird immer auch benutzt. Im Westen brachte man eben Brecht oder sowjetische Autoren nicht auf die Bühne.“ Daß es die gleiche Funktionalisierung der Kultur im SED- Staat gab, gibt Eva Kemlein sofort zu. Aber dort stimmte eben das Ziel. Der Rest war Hoffnung.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen