: Durch Theater auf die Beine kommen
■ Kulturprojekt von und für Wohnungslose „Unter Druck“ feiert Fünfjähriges
„Theater hab' ich auf der Straße genug“, sagen die meisten, wenn Holger, der früher selbst auf der Straße lebte, versucht, Obdachlose für Theater zu begeistern. „Einer von fünfzig kommt zu uns, und von denen springt auch wieder ein Teil ab.“ Trotzdem konnte das Obdachlosentheater des Kulturprojekts „Unter Druck“ fünf Stücke auf die Bühne bringen. Mit einem Hoffest in der Brunnenstraße feierte das Projekt am Samstag fünfjähriges Bestehen.
Angeregt durch den Besuch eines Obdachlosentheaters aus Großbritannien beschlossen 1991 der damalige Sozialstadtrat in Mitte, Rainer Roepke, und der Regisseur Bernhard Will, eine eigene Truppe aufzubauen. „Die kamen in die Wärmestuben und haben für ihr Projekt geworben“, erinnert sich Holger. „Ich bin mitgegangen, weil sie Essen versprochen haben.“ Auf der Flucht vor seinen Schulden war Holger in die Obdachlosigkeit geraten. Meist schlief er in einem Abbruchhaus. So nahm er auch das Angebot, in einer vom Bezirksamt bereitgestellten Baracke zu übernachten, gern an.
Ein halbes Jahr lang probten zwanzig Obdachlose mit fünf Schauspielern das selbsterarbeitete Stück „Untergang“. Nach zehn Aufführungen endete das Projekt aber ohne Perspektive. „Es gab ein Abschlußfest, und wir mußten auch wieder aus der Baracke raus“, erzählt Holger. Doch die im Spiel gewachsene Gruppe blieb zusammen. Mit einigen Sozialarbeitern gründeten sie im September 1991 ihr eigenes Kulturprojekt „Unter Druck – Kultur von der Straße“. Unterstützt von Bezirk und Senat, konnten sie Ostern 1992 eine Fabriketage in der Brunnenstraße 7d beziehen.
„Die Beschaffung von Wohnraum ist nur ein Nebenziel“, meint Till Haufs, seit einem Jahr im Vorstand von „Unter Druck“. Obdachlosigkeit sei in erster Linie ein psychosoziales Problem. Die Wohnungslosen seien nicht nur von der Gesellschaft isoliert. Auch untereinander gebe es wenig Kommunikation. „Theater bedeutet ein regelmäßiges Miteinander, wir vermitteln eine soziale Funktion in der Gruppe.“ Der Germanistikstudent Haufs übernahm die Leitung der Lesegruppe, in der Obdachlose Selbstgeschriebenes vorstellen. Wie auch in der Theatergruppe handeln die Texte von Obdachlosigkeit und Armut.
„Ich habe versucht, andere Themen anzuschneiden“, meint Haufs. Aber die Obdachlosen dränge es danach, aufzuschreiben, wer sie sind und wie sie fühlen. Besonders wichtig bei den öffentlichen Lesungen sei das Publikum. „Wer hört sonst schon einem Obdachlosen zu?“ fragt Haufs. „Der Applaus hebt das Selbstwertgefühl.“ Daher sei auch die Arbeit in der Fotogruppe, dem dritten Kulturprojekt von „Unter Druck“, nicht so beliebt.
Auch Sozialberatung wird von „Unter Druck“ angeboten. „Die Leute kommen schließlich nicht nur zum Theaterspielen“, meint Jelle Brehmer, eine der zwei Sozialarbeiterinnen. An zwei Abenden in der Woche ist das Café geöffnet. Für den Winter ist ein Nachtcafé mit zehn Schlafplätzen geplant.
„Wir stehen auf der Schwelle zwischen einem Selbsthilfe- und einem Sozialarbeiterprojekt“, meint Brehmer. Die Kontinuität wird von den Hauptamtlichen garantiert. Zwar stürzten sich viele Obdachlose in die Arbeit, scheiterten aber schnell an Überlastung. Andere hätten Vorbehalte gegen die „Edel-Clochards“, meint Holger. Dennoch stellt keiner die Vereinsarbeit in Frage, solange Leute wie Holger sich durch die Kultur aus dem Dreck ziehen können: „Ich bin durch das Theater wieder auf die Beine gekommen.“ Gereon Asmuth
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