: Die Kürzung der Lohnfortzahlung schafft neue Ungerechtigkeiten: Beschäftigte in kleinen Betrieben, ArbeiterInnen und Ostdeutsche sind benachteiligt. Eine Flut von Prozessen ist zu erwarten - über Bedeutung und Auslegung von Tarifverträgen.
Die Kürzung der Lohnfortzahlung schafft neue Ungerechtigkeiten: Beschäftigte in kleinen Betrieben, ArbeiterInnen und Ostdeutsche sind benachteiligt. Eine Flut von Prozessen ist zu erwarten – über Bedeutung und Auslegung von Tarifverträgen.
Das neue Gesetz der zwei Klassen
Banker arbeiten hart und demnächst noch härter. Das Bankengewerbe gehört nämlich zu jenen Branchen, in denen die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall nicht tariflich gesichert ist. Anders dagegen im öffentlichen Dienst: Dort ist die volle Lohnfortzahlung fürs erste noch im Tarifvertrag festgeschrieben. Schon ein paar Tage nach Verabschiedung des „Sparpakets“ zeigt sich: Das neue Gesetz zur gekürzten Lohnfortzahlung schafft eine Zweiklassengesellschaft. Besonders benachteiligt: Angehörige tariflich nicht abgesicherter Branchen wie beispielsweise Beschäftigte in kleinen Betrieben und ArbeiterInnen.
„Wir werden das neue Gesetz anwenden“, sagte gestern eine Sprecherin der Commerzbank in Frankfurt der taz. Auch ein Sprecher der Bankgesellschaft Berlin bestätigte, daß ihre erkrankten BankerInnen mit weniger Gehalt rechnen müssen. Laut dem am vergangenen Freitag vom Bundestag verabschiedeten Gesetz bekommen Kranke während ihrer Abwesenheit ab 1. Oktober 20 Prozent weniger Gehalt. Ersatzweise kann für eine Krankheitswoche auf einen Urlaubstag verzichtet werden.
Betroffen sind auch die Beschäftigten in der Bauindustrie, der Chemiebranche sowie im ostdeutschen Einzelhandel. In deren Tarifverträgen gibt es keine ausdrückliche Garantie auf eine volle Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, oder es wird im Tarifvertrag nur auf das Gesetz verwiesen.
„Wir gehen davon aus, daß die Unternehmer von dieser gesetzlichen Änderung Gebrauch machen werden“, sagt Günter Glass von der Geschäftsführung des Bundesarbeitgeberverbandes Chemie (BAVC). Bei Hoechst und Schering beispielsweise soll das Gesetz angewandt werden. „Wir verhandeln noch, wie die Regelung im Betrieb genau umgesetzt wird“, berichtet ein Sprecher des Hoechst- Konzerns in Frankfurt. Und auch im ostdeutschen Einzelhandel droht Kranken die Gehaltsminderung. „In der ehemaligen DDR gab es bei Krankheit auch nur 80 Prozent, das wäre also nichts Neues“, meint dazu Gero Hildebrandt, Geschäftsführer des Verbandes der Kaufleute in Sachsen- Anhalt.
Ungerechtigkeit herrscht dabei auch innerhalb der Branchen: Auf dem Bau, in der Bekleidungs- und Textil- sowie in der Druckindustrie gibt es für die ArbeiterInnen keine eigene tarifliche Regelung, für die Angestellten ist die volle Lohnfortzahlung per Tarifvertrag ausdrücklich festgehalten.
Ungerecht ist die gesetzliche Kürzung auch für jene Beschäftigten, deren Unternehmen gar nicht im Arbeitgeberverband sind und daher auch nicht den Tarifverträgen verpflichtet sind. Im Osten sind laut Wirtschaftsinstitut DIW immerhin 36 Prozent der Beschäftigten dadurch nicht gesichert. Im Westen sind es 15 Prozent. Besonders betroffen sind Mitarbeiter kleiner Firmen, die die tariflichen Verpflichtungen scheuen.
Die Bonner Arbeitsgemeinschaft selbständiger Unternehmer (ASU) geht davon aus, daß nur noch 56 Prozent ihrer Mitglieder einem Arbeitgeberverband angehören. „Wir gehen davon aus, daß die Nichtorganisierten von der Neuregelung Gebrauch machen werden“, sagt ASU-Sprecherin Barbara Vogt. Auch im Handwerk sehe es „düster aus“, meint Reinhard Bispinck vom gewerkschaftsnahen Institut WSI. „Da gibt es in vielen Branchen überhaupt keine tarifliche Regelung zur Lohnfortzahlung.“
Nur rund 56 Prozent der ArbeitnehmerInnen im Westen – im Osten noch weniger – verfügten über eine wasserdichte tarifliche Sicherung der vollen Lohnfortzahlung, so Bispinck. Aber auch in diesen Branchen können die Manteltarifverträge gekündigt werden. Im Falle der Metallbranche haben die Arbeitgeber sogar noch einen Streit vom Zaun gebrochen, ob die Tarifverträge überhaupt ein eigenes Gewicht haben gegenüber der Gesetzesänderung.
Das neue Gesetz könnte besonders wegen des öffentlichen Dienstes jetzt für eine neue Neiddiskussion sorgen. Die SPD hat im Bundesrat die gekürzte Lohnfortzahlung für Beamte verhindert. Auch für die nicht verbeamteten Beschäftigten im öffentlichen Dienst gilt noch ein Tarifvertrag. Die Sozialdemokraten müssen sich jetzt anhören, wieder mal Beamte und damit den öffentlichen Dienst zu privilegieren. Barbara Dribbusch
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