piwik no script img

„Der Arzt will dem Patienten was geben“

■ Ein Interview zur Verschreibungswut der Ärzte und deren Angst vor eigenen Grenzen

Deutschlands Ärzte verordnen zuviel und überziehen ständig das gesetzlich vorgegebene Budget. Klagt Gesundheitsminister Horst Seehofer. Das Defizit der Kassen erreichte im ersten Halbjahr 1996 bereits 7,3 Milliarden Mark. Seehofer fordert die Kassen jetzt auf, Honorare von den Ärzten zurückzuverlangen, damit das vorgeschriebene Budget nicht überschritten wird. Sollte der Minister sich durchsetzen, brechen rauhe Zeiten für die Patienten an. Die taz befragte dazu Angelika Kiewel, Arzneimittelreferentin beim Berufsverband der Innungskrankenkassen.

taz: Ärzte verschreiben, was die Rezepte hergeben. Werden die Deutschen immer kränker?

Angelika Kiewel: Überhaupt nicht. Aber im Vergleich zu uns kommen die Ärzte in Dänemark und Schweden mit der Hälfte der Arzneimittel aus. Bei uns wären ohne Qualitätsverluste auch ernorme Einsparungen möglich.

Wird Sinnloses verschrieben?

In Deutschland stiegen die Arzneiausgaben zwischen 1991 und 1995 um 21 Prozent. Wir haben herausgefunden, daß dies zum größten Teil auf Arzneien mit neuen oder teilweise neuen Wirkstoffen zurückzuführen ist. Diese Medikamente stehen unter Patentschutz und werden teuer verkauft. Dann stiegen die Ausgaben aber auch bei den umstrittenen Mitteln, etwa bei durchblutungsfördernden Medikamenten. Im Jahr verschreibt jeder Allgemeinarzt für 425.000 Mark Arzneimittel. Medizinisch gibt es dafür keine hinreichende Erklärung.

Was vermuten Sie?

Es gibt zu viele Präparate auf dem Markt. Da blickt der einzelne gar nicht mehr durch. Und die Pharmaindustrie hat ein hervorragendes Marketing, was die Präparate an den Mann bringt.

Wollen Sie sagen, Ärzte seien willfährige Opfer der Pharmaindustrie?

Nein, die sind in ihrer Ausbildung nicht ausreichend über Medikamente unterrichtet worden. Dann sitzen sie in ihrer Praxis und haben 56.000 Präparate vor sich, über die sie kaum etwas wissen. Wir hätten gerne sogenannte Positivlisten, wie sie gerade in Berlin ausprobiert werden. Da haben sich die Beteiligten auf eine Liste von 400 Wirkstoffen geeinigt, die zur Versorgung ausreichen.

In Mecklenburg-Vorpommern haben die Ärzte ihr Budget voraussichtlich am 10. Oktober erschöpft. Was dann?

Die Ärzte können über das Budget nachverhandeln.

Was für einen Nutzen hat ein Arzt, wenn er zuviel verordnet?

Es geht schneller in seiner Praxis. Er hat das Gefühl, dem Patienten was geben zu können, es gehört ja heute dazu, für jedes Problem eine Lösung zu haben. Es scheint Ärzten unangenehm zu sein, jemandem zu sagen: Sie sind alt und da läßt das Gedächtnis einfach nach. Statt dessen verschreiben sie lieber irgendein Mittel, das nichts hilft. Interview: Annette Rogalla

40.000 mal Danke!

40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen