■ Charakterstudie auf dem Universitätsgelände
: Akademische Beschleunigung

Die Hamburger Universität ist nicht nur ein Treffpunkt des akademischen Nachwuchses, sondern kann mit Fug und Recht auch als norddeutsches Faktotenzentrum bezeichnet werden. Damen und Herren gesetzten Alters, die nach einem ausgiebigen Mahl am Förderband für Geschirrückgabe der Mensa engagiert das Weltgeschehen diskutieren, gehören ebenso zum Bild der Uni wie die Späthippieamazone, die täglich unbedarfte Studenten anspricht, um sie dann, sofern sie den Fehler machen zu reagieren, lauthals nach allen Regeln der Kunst als Dreck- und Ficksäue, Wüstlinge und Wichser zu beschimpfen. Keinem passiert das zweimal.

Letzte Woche entdeckte ich einen mir bislang unbekannten Menschen mit einer mir bislang unbekannten, bemerkenswerten Macke, sozusagen ein Faktotum novum: Typ Unigrufti, der das letzte Vierteljahrhundert vorwiegend an der Uni verbracht hat, als Student, Doktorand, Assistent, Lehrbeauftragter, wieder Student usf., der es nie zum Professor bringen wird; langärmeliges, kleinkariertes Hemd, die Manschetten zugeknöpft, Brille mit Kassengestell, halblanges, leicht wirres Haar, lange Gabardinehose, Sandalen, graue Socken. Dieser Unigrufti (nennen wir ihn Gerd) flanierte gemessenen Schrittes etwa anderthalb Meter vor mir. Er wirkte höchst konzentriert, als rekapituliere er gerade die Kantschen Thesen zur Kritik der Urteilskraft. Urplötzlich – ich zuckte zusammen – stürmte er los, resolut, in mindestens doppeltem Tempo, als habe Kant persönlich in Gerds Großhirn einen Hebel auf „Sturm“ geschaltet. Die Arme schwenkte Gerd energisch, die Ellbogen nach NVA-Manier durchgedrückt und nicht, wie bei der Bundeswehr üblich, leicht angewinkelt. Die Konzentration war wilder Entschlossenheit gewichen, der Blick furchterregend, als könne ihn, Gerd, in diesem Moment nichts und niemand aufhalten. Trotzdem erschien Gerd mir nicht militärisch, sondern vergeistigt, als habe eine plötzliche Erkenntnis ihn wie eine Tarantel gestochen. Sein Gang war trotz der zackigen Armbewegungen weniger preußisch als akademisch – eine Art akademischer Stechschritt.

Nach genau zwölf Schritten war der Spuk vorbei. Als sei nichts vorgefallen, flanierte Gerd wieder konzentrierten Blickes. Dieser Vorgang – die plötzliche Beschleunigung in den akademischen Stechschritt und dessen ebenso rapider Abbruch – wiederholte sich noch mehrmals, immer im gleichen Rhythmus. Auch die normale Phase war genau zwölf Schritte lang.

Meine Beobachtung gab mir an diesem Abend noch lange zu denken. Ist Gerd nicht wirklich, sondern nur mir erschienen, eine Halluzination als Allegorie auf eine postmoderne Universität, die unablässig pendelt zwischen konzentrierter Forschung und hektischer Raserei? Zwischen Freiheit der Forschung und politischem Druck? Zwischen Gelassenheit und Streß? Ying und Yang? Hinz und Kunz? Kopf und Arsch? Wer kann mir helfen? Wer kennt Gerd und kann mir bestätigen, daß er real existiert, nicht nur virtuell, allegorisch, halluzinativ? Noch so viele offene Fragen, doch schon hat der Wirt die letzte Bestellung ausgerufen. Banause. Joachim Frisch