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Die Perser wurden immer barbarischer

Überhöhte Erinnerungen: Auf dem 41. Deutschen Historikertag in München wurde „Geschichte als Argument“ bearbeitet. Über die Zusammenhänge zwischen Fakten, Mythen und dem Revival des Nationalismus schwieg man  ■ Von Christian Semler

Am 28. Juni 1989 strömten auf dem Kosovo Polje, dem Amselfeld nördlich von Pristina, der Hauptstadt des Kosovo, über eine Million Serben zusammen. Slobodan Milošević, der starke Mann aus Belgrad, prangerte die angebliche Unterdrückung der serbischen Minderheit durch die Kosovo-Albaner an, die mit fast 90 Prozent Bevölkerungsanteil die drückende Mehrheit in der Republik bilden. In den folgenden Wochen wird die Republik ihres Autonomiestatus, die albanische Bevölkerung ihrer Rechte beraubt.

Wiederum am 28. Juni, zwei Jahre später, attackieren Flugzeuge der jugoslawischen Bundesarmee den Flughafen von Ljubljana, der Hauptstadt Sloweniens. Dies in der Hoffung, die slowenische Unabhängigkeitserklärung rückgängig machen und den Auseinanderfall Jugoslawiens aufhalten zu können. Die Invasion scheitert.

Ein 28. Juni war es auch gewesen, an dem der serbische Student Prokop in Sarajevo auf den habsburgischen Thronfolger Franz Ferdinand schoß – mit den bekannten welthistorischen Folgen. 28. Juni 1389, das mythische, das immerzu erinnerte Datum der Schlacht auf dem Amselfeld, als die osmanische Armee die serbische vernichtete und damit dem unabhängigen mittelalterlichen Königreich der Serben ein Ende machte.

Putzdienst an der Staatsgeschichte

Was für ein Gegenstand der Reflexion für Historiker, die über die Gewalt geschichtlicher Begründungen, Daten und Mythen im gegenwärtigen, weltweiten Revival des militanten Nationalismus Rechenschaft geben wollen. Geschichte als Argument: Die deutschen Historiker hatten sich wirklich das richtige Thema zur richtigen Zeit für ihren Historikertag ausgesucht.

Allein – sie haben es verschenkt. In den 44 Sektionen des Kongresses fand sich kein einziger Vortrag, der die Geschichtsmächtigkeit historischer Daten für den Krieg im ehemaligen Jugoslawien nachgewiesen hätte. Fehlanzeige auch für das weite Halbrund zwischen Weißrußland und dem Kaukasus, wo die Nachfolgestaaten der Sowjetunion Heerscharen von Historikern dienstverpflichten, um den Adel früherer, unabhängiger Staatlichkeit wieder strahlen zu lassen. Und wo reichlich Blut fließt für die jeweiligen historisch geheiligten Grenzen.

Auch der zeitgenössische deutsche Boden, er blieb auf dem 41. Historikertag unbeackert. Kein Vortrag über die heutigen Deutungen der NS-Geschichte, über den Stellenwert der großen Debatten vom Historikerstreit der 80er Jahre bis zu den jüngsten Provokationen eines smarten Harvard-Historikers. Welchen Interessenlagen diente die DDR-Forschung in der alten Bundesrepublik und die zeitgeschichtliche BRD-Forschung in der DDR? Wie waren sie ineinander verhakt? Welche Ziele werden heute mit der Trümmerarbeit an der DDR-Geschichte verfolgt?

Zwar widmeten sich erfreulicherweise alle fünf Sektionen der „Zeitgeschichte“ verschiedenen DDR-Themen. Aber stets ging es bei diesem entschlossenen Akt der Eingemeindung um die Konstruktion von Geschichtsbildern durch die realsozialistische offizielle Geschichtsschreibung, um deren Konfrontation mit den Tatsachen. Nichts gegen Entmystifizierung, aber aus der Geschichte von Aufstieg und Fall des ersten deutschen Arbeiter-und-Bauernstaates wurde und wird doch sehr unterschiedlich schmeckender Honig gesogen. Darüber nichts als Schweigen.

Am ehesten wurde noch in den Sektionen über die Geschichte der deutschen Ostforschung und über die Geschichtsbilder im tschechisch-deutschen Dialog die Kunst der Beschmutzung des eigenen Historikernests geübt, wurde sichtbar, wie schwierig es auch künftig sein wird, in gemeinsamen Anstrengungen osteuropäischer und deutscher Historiker das Terrain von den schlimmsten Stereotypen zu reinigen. Nolens volens können sich die deutschen Historiker dieser Aufgabe nicht entziehen – einer aktuell-politischen Aufgabe.

Man wende nicht ein, die Geschichtswissenschaftler täten gut daran, sich vom politischen Getümmel um die Bedeutung zeitgeschichtlicher Ereignisse fernzuhalten. Erstens tun sie das sonst auch nicht, wie die Debatte um das Buch von Daniel Goldhagen zeigt.

Zweitens und weit wichtiger: Sie tun es zu Recht. Denn aus dem abschreckenden Bild, das in der deutschen Vergangenheit politisierende Historiker boten, folgt noch lange nicht, daß die „Zunft“, auch und gerade auf ihrem Historikertag, keine aufklärerischen Aufgaben gegenüber der Öffentlichkeit wahrzunehmen hätte. Damit übernehmen sie keineswegs die Rolle der Präzeptoren, die ihnen, nach dem Niedergang der Soziologie als Wegweise-Wissenschaft, von vielen Interessenten angetragen wird.

Auch der Einwand, das Forschungsfeld bei wichtigen, das Publikum bewegenden Fragen der „Vergangenheitsbewältigung“ sei abgegrast, zieht nicht. Speziell das Argument, über die Nazizeit sei alles Wichtige erforscht, geht am selbstgestellten Thema vorbei. Denn in Frage stünde doch gerade, welche Ereignisse der Nazizeit im Nachkriegsdeutschland wie wahrgenommen wurden. Rezeptionsgeschichte eben, Geschichte der Gründe eines partiellen Gedächtnisverlusts.

Mochten die deutschen Historiker diesmal auch vor den Anforderungen der Aktualität versagt haben – wo sichere historische Distanz sie schützte, mangelte es ihnen keineswegs an thematischem Problembewußtsein und originellen Forschungsansätzen. Das Generalthema der politischen Manipulation mit Hilfe konstruierter Geschichtsbilder wurde besonders in jenen Sektionen fruchtbar verhandelt, wo sich im Vergleich weit entfernter Kulturen oder Epochen die Techniken der Machtausübung mit Hilfe der Geschichte zeigten.

Exemplarisch dafür die Sektion „Schlachtenmythen“ unter Leitung des Freiburger Historikers Gerd Krumeich. Möglich wäre gewesen, entscheidende Schlachten, wie sie wirklich abliefen, gegen ihre spätere mythische Überhöhung zu halten. Die Veranstalter zogen einen anderen Weg vor und waren damit erfolgreich. Sie untersuchten, wie Schlachtenmythen entstanden sind, wie sie sich veränderten und welchen wechselnden Ideologien sie dienten.

Der Althistoriker Hans-Joachim Gehrke entfaltete den Widerspruch, in den das athenische Gemeinwesen nach dem Sieg über die Perser in der Schlacht von Marathon geriet: Wie den Sieger, Miltiades, feiern und gleichzeitig das Gemeinschaftsideal hochhalten, das die Ideologie der athenischen Adelsdemokratie den Mythenmachern auferlegte? Das Bild von Marathon changierte, je nachdem, ob die autokratische oder die demokratische Linie in Athen die Oberhand gewann. Eins aber war den konkurrierenden Schlachtenerzählungen gemeinsam: Die Perser wurden immer barbarischer. Marathon lief auf die Alternative Freiheit oder Knechtschaft hinaus. Die Freiheit der Hellenen hatte gesiegt. Damit aber war der hegemoniale Anspruch Athens für die hellenische Welt ideologisch untermauert. Kein Vorgang, der uns gänzlich unbekannt wäre.

Verlierer in der Rolle des Märtyrers

Der Seite der Schlachtenverlierer wandte sich der Berner Historiker Stig Förster zu. 1799 stürmten englische Truppen das südindische Stirangapatna. Damit war die Kolonialherrschaft über Indien besiegelt. In der indischen nationalen Bewegung avancierte der letzte Fürst von Stirangapatna, Tippu, zum verhinderten Modernisierer und Aufklärer. Pech nur, daß er ein Moslem war, weshalb er sich für die nationalistischen Hindu unserer Tage als nur bedingt mythen- einsatzfähig erweist. Die Schlacht von Stirangapatna ist der heutigen englischen Geschichtsschreibung nur eine peinliche Episode, in Indien hingegen bezeichnet sie eine der wichtigsten Trennungslinien bei der nationalen „Identitätssuche“.

Wie stark die Aktualität, die vermiedene, dennoch unterirdisch die historischen Fragestellungen bestimmte, erwies sich in der Sektion „Geschichte als Argument für Krieg und Frieden“. Der Augsburger Historiker Johannes Burkhardt untersuchte vergleichend, wie im Vorfeld des Dreißigjährigen Krieges und im Jahr 1913 je zwei Serien von Jubiläen, das des lutherischen Thesenanschlags von 1517 und das der Völkerschlacht von 1813, die Antagonismen verschärften und Kriegsbereitschaft verdichteten.

Glänzend auch die Darstellung, die der Berliner Historiker Reimer Hansen von der Erfolgsgeschichte des Kampfrufs „Op ewig ungedeelt“ gab. Ursprünglich ein Relikt aus der spätmittelalterlichen Staatslehre, das den Zusammenhalt Schleswigs und Holsteins regelte, geriet dieser Rechtssatz in den Strudel des romantischen Nationalismus und wurde schließlich zum deutschen Banner zweier Kriege gegen Dänemark. Wobei die Pointe dieser trostlosen Geschichte darin besteht, daß schließlich Schleswig wie Holstein ungeteilt von Preußen annektiert wurden.

Spontan einsetzende Austilgungsaktionen?

Nicht nur ums mythisch überhöhte Erinnern ging es auf dem Historikertag, sondern auch ums Auslöschen, um die Vernichtung von Gedächtniszeichen, wofür die Sektion „Denkmalsturz“ ebenso amüsante wie eindringliche Beispiele bot.

Vom Sturm auf die Bastille bis zur Umbenennung Berliner Straßen nach der „Wende“ von 1990 spannte sich der Bogen der in der Regel gar nicht so spontanen symbolischen Austilgungsaktionen. Dabei wurde nicht nur derer gedacht, die einrissen, sondern auch des Einfallsreichtums derer, die der Nachwelt manches große Bauwerk, manches kostbare Buch bewahrten. Wie jenem Abbé Gregoire, der seinen Mitstreitern in der französischen Revolution die Rettung von Büchern dadurch schmackhaft zu machen suchte, daß er auf dort nachlesbare nützliche Inhalte wie die Geschichte von Tyrannenmorden verwies.

Von dem Gießener Historiker Winfried Speitkamp wurde der Mechanismus des Denkmalsturzes anhand der Abrißaktion der Mainzer Jakobiner dargestellt, der die erzene Statue eines vormaligen Erzbischofs zum Opfer fiel. Sorgfältige Inszenierung, fachgerechter Abbruch und schließlich symbolische Überhöhung – aus dem geschmolzenen Erz wurden Medaillen mit der Aufschrift hergestellt: „Die Sonne der Wahrheit hat das Monument der Tyrannei geschmolzen.“ Neue Zeichensetzung: Wo das Denkmal stand, wurde nun ein Freiheitsbaum gepflanzt. War hier noch Enthusiasmus im Spiel, so führte bei späteren Denkmalsaktionen der Mainzer Jakobiner die französische Besatzungsmacht sorgfältig Regie. Alles sollte spontan aussehen, alles war geplant. Eine Maxime, derer man sich auch in unserem Jahrhundert gerne erinnerte.

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