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Schwebende Stadt

Im Pariser Centre Pompidou werden Frederick Kieslers Entwürfe urbaner Utopien gezeigt  ■ Von Mathias Remmele

Philip Johnson nannte ihn den „größten nichtbauenden Architekten unserer Zeit“. Das war Ende der fünfziger Jahre. Auch vier Jahrzehnte später sind solche Huldigungen an Frederick Kiesler noch immer angemessen, wenn man dessen einzigartiges und ungemein vielfältiges Werk betrachtet, das jetzt im Pariser Centre Pompidou gezeigt wird. Die umfassende Retrospektive entfaltet die ganze Breite von Kieslers Schaffen: Architektur, Bühnenbilder, Möbel, Ausstellungsdesign, Raumskulpturen und Zeichnungen. Sie verdeutlicht zugleich, was seiner Popularisierung bis heute entgegensteht – die formale Radikalität und der ephemere Charakter eines Großteils seines Werkes, das sich einer Kategorisierung weitgehend entzieht.

Als junger Mensch kam der 1890 im seinerzeit zu Österreich- Ungarn gehörenden Czernowitz geborene Kiesler nach Wien. Ein Studium an der dortigen Technischen Hochschule und der Akademie der Bildenden Künste blieb ohne Abschluß. An seiner künstlerischen Prägung durch das kulturell so fruchtbare Wien der Jahrhundertwende aber ließ Kiesler keinen Zweifel. Selbstbewußt bezeichnete er sich später als die „dritte Generation“, als legitimen Nachfolger von Otto Wagner, Adolf Loos und Josef Hoffmann.

Filmprojektionen für die Theaterbühne

Doch nicht in Wien, sondern in Berlin feierte Kiesler 1923 seinen frühesten künstlerischen Erfolg. Ein von ihm gestaltetes Bühnenbild für Karel Capeks „R.U.R“, bei dem erstmals in der Theatergeschichte auch mit Filmprojektionen gearbeitet wurde, erregte entsprechendes Aufsehen und brachte ihn in Kontakt mit einigen der führenden Avantgardekünstler seiner Zeit: van Doesburg, Hans Richter, Moholy-Nagy und El Lissitzky. Wenig später trat Kiesler als jüngstes Mitglied der De-Stijl- Gruppe bei, mit deren führenden Köpfen ihn eine lebenslange Freundschaft verband.

In den folgenden Jahren gelang es Kiesler, sich durch zwei Projekte in der europäischen Avantgarde zu etablieren. 1924 organisierte er in Wien die „Internationale Ausstellung neuer Theatertechnik“. Er entwarf hierfür eine den Theoremen der De-Stijl-Gruppe verpflichtete Ausstellungsarchitektur und entwickelte außerdem mit der sogenannten Raumbühne einen völlig neuartigen Bühnentypus. Inspiriert von Achterbahn und Boxring, erdacht als Reaktion auf die offensichtlich gewordene Krise des traditionellen Guckkastentheaters, sollte die im Zentrum des Zuschauerraumes liegende Spielfläche das Theater für neue, zeitgemäße Darstellungsformen wie Tanz, Pantomime und Akrobatik öffnen.

In der Praxis erwies sich die aus einer gekurvten Rampe, einem Ring und einem mannshoch darüber liegenden Kreiselement bestehende Bühne als wenig tauglich. Wohl nicht zuletzt, weil sich der von Kiesler geforderte „Dichter- Ingenieur“ nicht fand, der ein dazu passendes „Bewegungsdrama“ hätte schreiben können. Ebenfalls im Rahmen einer Ausstellung präsentierte Kiesler 1925 in Paris sein erstes utopisches Architekturprojekt: die „City in Space“, eine zwischen gewaltigen Trägern frei im Raum schwebende Megastadt – seine Version dieses epochentypischen Themas.

1926 übersiedelte Kiesler nach New York, wo er – allen Schwierigkeiten in materieller Hinsicht zum Trotz – 1929 sein erstes großes Projekt realisieren konnte. Er gestaltete die Fassade und die Innenräume des Film Guild Cinemas. Mit dieser Arbeit, die formal an Ouds Café „De Unie“ in Rotterdam anknüpfte, war Kiesler auch in der legendären, von Henry-Russel Hitchcock und Philip Johnson organisierten „International Exhibition of Modern Architecture“ 1932 im New Yorker MoMA vertreten.

Auch das Interesse am Möbeldesign entdeckte Kiesler in Amerika. Waren seine Arbeiten anfänglich noch von Bauhaus- und De-Stijl-Formen geprägt, so entwickelten sich ab Mitte der dreißiger Jahre die eher organischen, vom Surrealismus beeinflußten Entwürfe seiner Spätzeit. Als Beispiele dienen hier der 1936 vorgestellte nierenförmige Tisch aus Aluminium oder ein multifunktionales Sitzmöbel, dessen vielfältige Einsatzmöglichkeiten Kiesler bei seiner Gestaltung von Peggy Guggenheims berühmter Galerie „Art of this Century“ 1942 eindrucksvoll unter Beweis stellte – als Hocker, Staffelei und Podest.

Fünf Jahre später entstand mit dem ersten Entwurf für ein „Endless House“ die wohl bekannteste Architekturvision Kieslers, die ihn in mehreren Versionen über Jahre hin beschäftigte. Es handelt sich um einen durch dicke Stützen vom Boden abgehobenen, organhaft geformten Schalenbau mit höhlenartigen, ineinanderfließenden Innenräumen, der als Wohnhaus für eine mehrköpfige Familie konzipiert wurde. Die etwas irreführende Bezeichnung „endless“ bezieht sich auf den kontinuierlichen, weil immer wieder auf sich selbst bezogenen, also quasi unendlichen Raum innerhalb des Hauses. Kiesler, der glaubte, mit dem „Endless House“ eine optimale, auf sämtliche menschlichen Bedürfnisse zugeschnittene Architektur entwickelt zu haben, hoffte vergebens auf eine Realisierung seiner Pläne. Das „Endless House“ blieb Vision.

Architektur als Kunst des Überflüssigen

Erst gegen Ende seines Lebens konnte Kiesler dann doch noch einen Bau realisieren. Für das Israel- Museum in Jerusalem entwarf er in Zusammenarbeit mit seinem ehemaligen Schüler Armand Bartos den „Schrein des Buches“: Ausstellungsort für die wertvollen, 1947 nahe dem Toten Meer gefundenen, fast 2.000 Jahre alten Qumran-Schriftrollen. Ein Bauwerk voller Poesie und Symbolkraft, das Kieslers Definition von Architektur eindrucksvoll illustriert. Er formulierte sie 1965, wenige Monate vor seinem Tod, in einer kurzen Rede bei der Einweihung des Schreins: „Architektur ist die Kunst, das Überflüssige notwendig, Bauen die Kunst, das Notwendige überflüssig zu machen.“

Wenn es im heutigen Israel einen Architekten gibt, der sich diesem Credo Kieslers verpflichtet fühlt, dann ist es Zvi Hecker, den man in Paris folglich mit der Gestaltung der Ausstellungsarchitektur beauftragte. Er hat den rechteckigen Ausstellungsraum überzeugend und schlicht durch leicht gekurvte Wandelemente gegliedert, die teils aus hell gebeiztem Sperrholz, teils aus weiß und rot gestrichenen Rigipsplatten bestehen. Ihre Anordnung im Raum kann als Synthese aus Kieslers „endlosen“ Räumen und dem dynamischen, um einen Hof zentrierten Grundriß von Heckers kürzlich eingeweihter Heinz-Galinski- Schule in Berlin gelesen werden. In diesem gelungenen Rahmen präsentiert die Pariser Ausstellung das vielseitige Werk Kiesler vor allem mit Hilfe von Fotografien, Plänen, Zeichnungen und Modellen. Die entsprechenden Erläuterungen fallen bisweilen zu knapp aus. Manches Projekt, vor allem der „Schrein des Buches“, ist nur unzureichend dokumentiert. Wer sich eingehender mit Kieslers Utopien beschäftigen möchte, wird auf den Ausstellungskatalog zurückgreifen müssen.

„Frederick Kiesler. Artiste-architecte“. Bis 21. 10., Centre Pompidou, Paris. Katalog, Édition du Centre Pompidou, Paris 1996, 271 Seiten, zirka 120 DM

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